Luftangriff auf Sikêniyê-Klinik: Beschwerde vor dem UN-Menschenrechtsausschuss

Am 17. August 2021 bombardierte die türkische Luftwaffe die Sikêniyê-Klinik in der ezidischen Şengal-Region. Acht Menschen wurden getötet und weitere zum Teil schwer verletzt. Vor dem UN-Menschenrechtsausschuss wurde nun eine Beschwerde eingereicht.

Am 17. August 2021 bombardierte die türkische Luftwaffe die Sikêniyê-Klinik in der Şengal-Region im Nordwesten des Iraks. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Luftangriffen kamen acht Menschen ums Leben, weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Unter den Todesopfern waren neben Mitgliedern der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) auch Angehörige des Krankenhauspersonals. Die Luftschläge auf das Krankenhaus waren nur einige in einer ganzen Reihe von völkerrechtswidrigen Übergriffen der Türkei in jenen Tagen auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet.

Women for Justice und Accountability Unit unterstützen Beschwerde

Um diese Übergriffe zu ahnden, das Leid der Opfer zu würdigen und künftige Angriffe zu verhindern, haben vier Überlebende und Zeugen mit Unterstützung des in Berlin ansässigen Vereins Women for Justice e.V. und der britischen NGO Accountability Unit (AU) eine Beschwerde beim Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen eingereicht. Sie machen geltend, dass die Türkei mit den Luftangriffen auf die Klinik gegen ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen hat. Zudem monieren sie, dass die Türkei es versäumt habe, die Tötung von Zivilpersonen infolge der Luftangriffe ihrer Armee zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und den Opfern wirksame Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen.

Die Luftangriffe vom 17. August 2021

Es ist die erste Beschwerde im Zusammenhang mit türkischen Luftschlägen in Şengal, die in zwei Jahren aufwendiger Arbeit vorbereitet wurde. Sie wurde Ende vergangener Woche beim UN-Menschenrechtsausschuss in Genf eingereicht. Darin widersprechen die Beschwerdeführenden vehement den Äußerungen der türkischen Regierung, die Angriffe auf die Klinik im Dorf Sikêniyê hätten sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihren „lokalen Ableger“, die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) gerichtet – eine Art Bürgerwehr, die unter dem Eindruck des Genozids der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) 2014 in Şengal gegründet wurde.

Nach der Zerstörung des Krankenhauses hatte das türkische Verteidigungsministerium behauptet, im Rahmen einer „Luftoffensive” zehn „PKK-Terroristen neutralisiert“ zu haben. Dazu zählte das Ministerium neben den Opfern in der Klinik auch einen YBŞ-Kommandanten und seinen Neffen, die am 16. August 2021 bei einem gezielten Luftangriff auf dem Marktplatz im Zentrum von Şengal-Stadt ermordet worden waren. Die YBŞ bestreiten zwar nicht, ideologische Verbindungen zur PKK zu haben. Schließlich war es die PKK-Guerilla, die Şengal und seine Bevölkerung gegen den IS-Genozid verteidigte. Sie betonen jedoch, unabhängig von der PKK zu handeln. So wird auch im Antrag an die UN darauf verwiesen, dass sich zum Zeitpunkt der Luftangriffe keine PKK-Mitglieder in Sikêniyê aufgehalten hätten. Die Klinik sei auch nicht wie behauptet von bewaffneten Einheiten geschützt worden. In der Nähe des Krankenhauses habe sich lediglich ein Kontrollpunkt der YBŞ befunden.

Türkei genießt Straffreiheit und das Schweigen der internationalen Gemeinschaft

„Dies ist ein äußerst wichtiger und symbolträchtiger Fall, bei dem es um Unrecht und eindeutige Verletzungen der Grundrechte der ezidischen Bürgerinnen und Bürger durch den türkischen Staat geht“, sagte Aarif Abraham, der Direktor von Accountability Unit, gegenüber dem „Guardian“. Er glaubt, dass Ankara sich bei den UN ganz sicher nicht auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund berufen könne für „drei aufeinanderfolgende Angriffswellen auf ein ziviles Krankenhaus innerhalb von 30 Minuten, bei denen acht Menschen getötet wurden“. Abraham kritisiert zudem: „Die Türkei genießt seit langem Straffreiheit und das Schweigen der internationalen Gemeinschaft, wenn sie unter dem Vorwand, gegen Terroristen vorzugehen, nicht-türkische Staatsangehörige außerhalb ihres Hoheitsgebiets ins Visier nimmt. Der Menschenrechtsausschuss der UNO ist das einzige Gremium, das eine realistische Chance hat, die Türkei zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern eine sinnvolle Wiedergutmachung zukommen zu lassen.“

Ferman: Türkische Luftangriffe größtes Sicherheitsrisiko seit dem IS

Dr. Leyla Ferman, die Geschäftsführerin von Women for Justice, betont: „Nach dem Sieg über den IS in Şengal stellen die türkischen Luftangriffe das größte Sicherheitsrisiko dar. Die ezidische Bevölkerung war schockiert, dass die Türkei selbst vor einem Krankenhaus nicht Halt gemacht hat.“ Laut Ferman ist die Beschwerde eine Chance zu zeigen, dass die Sicherheit der Ezidinnen und Eziden ein Anliegen der Vereinten Nationen sei.

Kontrollgremium zur Einhaltung des UN-Zivilpaktes

Der UN-Menschenrechtsausschuss, auch bekannt als Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte, ist ein von den Vereinten Nationen eingesetztes Kontrollorgan, das die Umsetzung und Einhaltung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) und seiner beiden Zusatzprotokolle durch die Vertragsstaaten überwacht. Neben Staatenbeschwerden können auch Individualbeschwerden eingereicht werden. Diese ermöglicht es Einzelpersonen und Personengruppen sowie Nichtregierungsorganisationen, ihre Rechte geltend zu machen. Mit einer raschen Bearbeitung der Beschwerde im Fall des Angriffs auf die Sikêniyê-Klinik ist indes nicht zu rechnen, da beim Menschenrechtsrat schon länger ein Bearbeitungsstau von mehreren Monaten vorliegt.