Kurden in Sêrt verweigern Kriegsdienst

Die Türkei ist der einzige Mitgliedsstaat des Europarats, der nach wie vor die Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt. Wer den Kriegsdienst verweigert, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, die ein Leben lang andauern kann.

Wie viele Kriegsdienstverweiger*innen es in der Türkei gibt, das wissen antimilitaristische Organisationen selbst nicht so genau. Denn Kriegsdienstverweiger*innen unterliegen einem Teufelskreis aus Einberufung, Verweigerung und strafrechtlicher Verfolgung, der ein Leben lang andauern kann, da in der Türkei die Wehrpflicht erst dann als erfüllt angesehen wird, wenn der Militärdienst abgeleistet wurde. Dies hat sich auch nicht durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) geändert, die in der Verfolgung von Kriegsdienstverweiger*innen eine Verletzung der Artikel 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung) und Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sehen. Noch immer ist die Türkei der einzige Mitgliedsstaat des Europarats, der das Kriegsdienstverweigerungsrecht nicht kennt.

Mit Şerif Polat und İrfan Yıldız gibt es seit heute jedoch zwei weitere Menschen, die sich trotz drohender Verfolgung weigern, den Militärdienst abzuleisten. Das gaben die beiden im Rahmen einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten des Menschenrechtsvereins IHD in der nordkurdischen Provinzhauptstadt Sêrt (türk. Siirt) bekannt. Yıldız, der 1997 im benachbarten Êlih (Batman) auf die Welt kam, begründete seine Entscheidung damit, dass er nahezu sein gesamtes bisheriges Leben militärische Gewalt erfahren habe. Seine Kindheit musste er unter dem Eindruck von Tränengas, Schlagstöcken der Polizei, Geräuschen von Schüssen und ständiger Repression verbringen.

Lieber Kleidung in rot, schwarz oder bunt, statt Tarnkleidung

„Haushaltsgelder, die eigentlich dafür verwendet werden müssten, die Bevölkerung vor Armut zu beschützen, werden in die Rüstungsindustrie gepumpt“, sagte Yıldız. Dieses System könne er nicht akzeptieren, und Tarnkleidung ebenso wenig. „Wenn mir danach ist, trage ich Kleidung in Regenbogenfarben, in schwarz oder in rot, ja. Aber ich weigere mich, die Camouflage-Kleidung des Militärs zu tragen. Ich akzeptiere nicht, dass die Rechte von Frauen, Kindern und LGBTI-Menschen geplündert werden. Ich verweigere, dass ich eines Tages in der Kaserne plötzlich tot aufgefunden werde. Ich lehne es ab, Befehle entgegenzunehmen, und ich in der Folge der Verweigerung ohne Kopf in einem Grab für anonyme Tote lande. Ich will nicht das Blut von Millionen Kriegsopfern an meinen Händen haben und auf der Seite derjenigen stehen, die über das kurdische Volk nur Leid und Schmerz bringen. Als Kriegsdienstverweigerer werde ich mein verbleibendes Leben in Würde verbringen. Diese Einstellung werde ich bis zu dem Tag beibehalten, an dem sie unser Land verlassen“, erklärte Yıldız.

Von Zwangsverwaltung entlassen

Şerif Polat äußerte sich mit ähnlichen Worten zu seiner Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern. Der 30-Jährige unterstrich, dass er Opfer ersten Grades des Krieges sei, der die kurdischen Regionen fest im Griff habe. „Durch die Kriegspolitik der AKP hat die staatliche Gewalt gegen das kurdische Volk, das seit Gründung der türkischen Republik unterdrückt wird, ungeheuerliche Dimensionen angenommen“, sage Polat. Der Krieg sei inzwischen so etwas wie „staatliche Tradition“, die äußerst facettenreich und in jedem Bereich des Lebens zu spüren sei. Polat, der von Beruf Filmemacher ist und zuletzt für die HDP-geführte Kommune arbeitete, wurde im Zuge der staatlich verordneten Zwangsverwaltung in Sêrt entlassen. „Nicht nur Personen in meiner Situation, sondern ganze Familien werden als ‚Terroristen‘ diffamiert. Demgegenüber zu schweigen, uns dem Unrecht zu beugen ist das, was der Staat von uns verlangt. Aber ich werde nicht schweigen. Ich akzeptiere es nicht, Soldat eines Staates zu sein, der mir mein Existenzrecht aberkennt. Krieg ist ein Fluch ohne Gewinn. Er bedeutet nichts anderes als Zerstörung mit Auswirkungen, die noch nach Jahrhunderten zu spüren sind. Krieg steht für Flucht, Zerfall und Trauma – er ist nicht heilig. Ich werde nicht Teil dieses Fluches sein, der uns als ‚heilig‘ untergejubelt wird. Zu sterben oder zu töten kann keine Option sein. Eine Gesellschaft, in der das kurdische Volk die gleichen Rechte wie die dominierende Nation erlangt und Frauen und LGBTI-Menschen nicht getötet, ausgegrenzt und ausgebeutet werden, kann nur durch Ablehnung des Militarismus und der patriarchalischen und heterosexistischen Ideologie ermöglicht werden. Deshalb bin ich ein Kriegsdienstverweigerer“, sagte Polat.

Kriegsdienstverweigerung: Prozesse, Gefängnis, Folter, Nötigung 

In der Türkei gibt es eine Wehrpflicht. Derzeit hat jeder Wehrpflichtige zwischen sechs und zwölf Monaten Militärdienst abzuleisten. Kriegsdienstverweiger*innen, die es bereits seit der Einführung der Wehrpflicht am Ende des 19. Jahrhunderts in der Türkei gibt, müssen mit einer Odyssee aus wiederholten Festnahmen, Prozessen, Gefängnisaufenthalten, Folter, Nötigung und Einschüchterung rechnen. Bekannte Personen in der Türkei, die diese Odyssee bereits durchgemacht haben, sind unter anderem Osman Murat Ülke, der als erster aufgrund seines zivilen Ungehorsams verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt wurde, Mehmet Tarhan und Halil Savda.

Europarat drängt Türkei zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung

Anfang Juni hat das Ministerkomitee des Europarates in einer Entscheidung gegenüber der Türkei in unmissverständlichen Worten dargelegt, dass Kriegsdienstverweiger*innen nicht weiter der Strafverfolgung unterliegen dürfen. Die Entscheidung befasste sich mit Fällen von neun Kriegsdienstverweiger*innen, die in den letzten Jahren vor dem EGMR in Straßburg Klage erhoben hatten. Die Entscheidung fiel auch auf Grundlage einer von Connection e.V., Vicdani Ret Derneği, Freedom of Belief Initiative in Turkey, Norwegian Helsinki Committee, War Resisters‘ International und dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung eingereichten Stellungnahme.

Die Türkei wird in der Entscheidung zum einen aufgefordert, dass die „Antragsteller nicht länger wegen ihrer Weigerung, Militärdienst abzuleisten, strafrechtlich verfolgt oder verurteilt werden“. Zum anderen forderte das Ministerkomitee die Türkei auch dazu auf, bereits erhobene Geldstrafen zu erstatten, Haftbefehle aufzuheben und Strafregister zu löschen, um eine Situation zu beenden, in der die Antragsteller „dazu gezwungen sind, ein geheimes Leben zu führen, was zu einem ‚zivilen Tod‘ führt.“ Außerdem muss Ankara bis Juni 2021 einen Aktionsplan mit konkreten Vorschlägen zu Maßnahmen für den Schutz von Kriegsdienstverweiger*innen vorlegen.