K., ein ehemaliger Soldat der türkischen Streitkräfte, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, hat seinen Wehrdienst 2009/2010 im Grenzgebiet zum Iran abgeleistet. Seine Garnison war damals nach dem türkischen Offizier Mustafa Muğlali benannt, der 1943 33 Dorfbewohner in Wan mit verbundenen Augen und gefesselten Händen erschießen ließ.
K.s Einsatzort war der Grenzübergang Kapiköy. Nach seinen Angaben waren Kurden während seiner Militärzeit an der Grenze vogelfrei. Er hat den Tod von mehreren Zivilisten, darunter auch Kindern, miterlebt. Wenn er seinen Namen nennen würde, sagt K., würde er wegen Hochverrat angeklagt werden. Um Schaden von sich und seiner Familie abzuwenden, lässt er sich auf ein Interview nur unter der Bedingung ein, dass er anonym bleibt.
Als Sie zum ersten Mal die Kaserne betraten, wussten Sie da bereits, wer Mustafa Muğlali war?
Ja, am Tor war sein Name und im Gebäude waren Texte, die ihn als Helden würdigten. Viele Soldaten wissen nichts über ihn und kümmern sich auch nicht darum, aber ich habe mich aufmerksam umgesehen. Mit der Benennung der Kaserne nach ihm wurde den Soldaten signalisiert: „Ihr dürft töten, wir stehen hinter euch.“ Dieses Signal erzielte meiner Meinung nach die gewünschte Wirkung. Die Kommandanten betrachteten Muğlali als Helden.
Wie viele Personen wurden während Ihrer Wehrzeit getötet?
Ich weiß von drei Personen. Es war die Rede von Schmuggel und offiziell wurde von „Grenzverletzung“ gesprochen. Bei den Todesfällen im Grenzgebiet gaben sich die Türkei und der Iran normalerweise gegenseitig die Schuld. Die iranische Seite behauptete, die Türkei habe geschossen, die türkische Seite sagte dasselbe über den Iran. Damit wurden alle Vorfälle gedeckelt. Eine ballistische Untersuchung hätte natürlich belegt, wer geschossen hat, aber solche Untersuchungen fanden nicht statt.
War denn nicht eindeutig, wer den Schießbefehl gegeben hat?
Es gab keinen Schießbefehl. Die Soldaten hatten ohnehin die Ermächtigung zum Schusswaffengebrauch. Beim Militär gibt es tausendundeine Sorte Menschen. Es gibt gute Menschen, aber es gab auch viele mit bösen Absichten. Und die erschossen Menschen. Sie wussten ja auch, dass die Tötung von Kurden straffrei bleibt, deshalb wurde ohne vorherige Warnung geschossen. Die ermordeten Menschen waren unschuldig. Sie mussten diese Arbeit machen, um ihr tägliches Brot zu sichern. Aber zu dem Transport von Diesel mit Tanklastwagen über die Grenze wurde nichts gesagt.
Wurde an dem Schmuggel von Diesel verdient?
Ja, das fand organisiert statt. Die Kommandanten, die die Wache und die Patrouillen einteilten, wussten Bescheid und kümmerten sich um die Wachablösung oder gingen selbst zur Wache. Die Kommandanten wollten vor allem Pferde. Wenn auf die Dörfler geschossen wurde, waren sie entweder tot oder ergriffen die Flucht. Ihre Pferde wurden von den Soldaten eingefangen. Die Kommandanten übergaben sie dann nicht der Jandarma (Militärpolizei), sondern verkauften sie wieder an ihre Besitzer. Wenn das nicht klappte, wurden die Pferde zum Fluss gebracht und getötet, weil es zu schwer war, sich um sie zu kümmern.
Einmal hörte ich auf der Wache, wie sich zwei Soldaten unterhielten. Sie sprachen darüber, dass der Dieselschmuggel mit Tanklastwagen zugelassen wird, aber bei der Frage, ob die Dörfler getötet werden sollen, waren sie uneinig. Ein anderes Mal ging eine große Gruppe Dörfler ungehindert mit Pferden und leeren Kanistern über die Grenze in den Iran. Erst bei ihrer Rückkehr wurde eingegriffen. Die Leute wurden festgenommen, ihre Pferde und Kanister wurden beschlagnahmt. Bei dem Roboskî-Massaker zum Beispiel war natürlich bekannt, dass es sich bei der Karawane um Zivilisten handelte. Es ist genau bekannt, wer, wann und wo die Grenze überquert.
Finden keine Ermittlungen statt, wenn Menschen erschossen werden?
Als ich dorthin kam, hatte gerade ein Unteroffizier einen Jugendlichen im Alter von 16 oder 17 Jahren erschossen. Die Familie des Jungen suchte den Täter. Uns wurde damals befohlen, den Namen des Unteroffiziers auf keinen Fall preiszugeben. Falls die Familie fragen sollte, sollten wir sagen, dass er versetzt worden ist und sich nicht mehr in der Gegend befindet. In Wirklichkeit wurde er zu seinem eigenen Schutz zu einem nahegelegenen Militärposten gebracht. Ihr Journalisten solltet solche Fälle aufklären.
Während Ihrer Militärzeit kamen in Qerqelî (Özalp) fünf Kinder bei der Explosion einer Handgranate in der Nähe eines Bataillons ums Leben. Was wissen Sie über diesen Vorfall?
Ja, ich war damals dort. Uns wurde gesagt, dass die Kinder durch den Stacheldraht auf das Gelände eingedrungen sind und bei der Detonation eines Explosivstoffs, den sie von dort mitgenommen haben, gestorben sind. Damit war der Vorfall erledigt. Natürlich war es merkwürdig. Wenn eine Waffe verschwindet, wird Aufstand gemacht, insofern ist auch nicht zu erwarten, dass geschwiegen wird, wenn eine Granate fehlt. Ob die Kinder Opfer einer Nachlässigkeit oder einer bewussten Handlung geworden sind, weiß ich nicht.
Im Moment wird in Wan viel über die Afghanen geredet, die über die iranische Grenze kommen. Wie war es damals, als Sie dort waren? War es nicht möglich, die Grenzüberschreitungen zu verhindern?
Wenn man es will, kann man es verhindern, aber es findet eine organisierte Zusammenarbeit zwischen Militärangehörigen im Inland und Schleppern im Ausland statt. Mit Menschenschmuggel wird viel Geld verdient. Die Militärs haben das Geld untereinander aufgeteilt, ohne dass Wehrpflichtige wie ich etwas davon mitbekommen haben. Das fand vor allem über die Harabe-Garnison statt, die Flüchtlinge wurden dort vorbeigeschleust. Dort laufen die Dinge anders, deshalb ist der Grenzübertritt dort sehr einfach.
Haben Sie Gespräche zwischen türkischen und iranischen Militärs miterlebt?
Es fanden ständig Gespräche statt. Die Türkei und der Iran hatten eine Einigung zum Thema Grenze getroffen und machten alles gemeinsam. Worüber bei diesen Versammlungen gesprochen wurde, weiß ich nicht.