Nach einem der DHKP-C zugeschriebenen bewaffneten Angriff auf den Justizpalast in Istanbul-Çağlayan Anfang Februar 2024 ergriff der türkische Staat die Gelegenheit und nahm über hundert Menschen, insbesondere aus der alevitischen demokratischen Opposition, fest. Einer von ihnen ist der schwer an Krebs erkrankte Eren Odabaş aus dem Vorstand des Cem-Hauses für die Gazi-Gefallenen. Das alevitische Gemeindezentrum gehört zum Pir-Sultan-Kulturverein (PSAKD). Eren Odabaş leidet unter einer besonders aggressiven Art von Krebs. Bei ihm war im Bein ein Desmoid-Tumor entdeckt worden. Dabei handelt es sich um eine seltene Art des Krebses, der sich in den Muskeln ausbreitet. Das Onkologische Institut der Universität Istanbul hatte festgestellt, dass eine Behandlung und Kontrolle des Tumors lebensnotwendig für Odabaş seien. Trotz dieses Gutachtens befindet sich Odabaş weiterhin im Hochsicherheitsgefängnis Sincan und wird weder freigelassen noch behandelt oder in eine geeignetere Haftanstalt verlegt.
Eren und Özge Kar Odabaş
Gegenüber ANF erklärte die Ehefrau des Gefangenen, Özge Kar Odabaş: „Man will meinen Mann sterben lassen.“
„Sie haben selbst das Baby mit der Waffe bedroht“
Am 6. Februar stürmte die Polizei unzählige Wohnungen. Eine dieser Wohnungen, war die, in der die Journalistin Özge Kar Odabaş und Eren Odabaş, sowie deren 14 Monate alte Tochter lebten. Odabaş wurde aufgrund einer falschen Denunziation rechtswidrig festgenommen und verhaftet. Er war nachweislich während der Aktion in Çağlayan auf der Arbeit. Die vermummten und mit Langwaffen ausgerüstete Polizisten bedrohten sogar das 14-Monate alte Kleinkind mit einer Waffe. Özge Kar Odabaş ist noch immer von den Geschehnissen in dieser Nacht traumatisiert. Sie berichtete, wie ihr Mann geschlagen wurde: „Sie waren sehr aggressiv. Als ich ihnen sagte, dass mein Baby schlief, sagten sie: ‚Geh und weck dein Baby auf.‘ Sie legten meinen Mann Eren auf den Boden, fesselten ihn mit Handschellen hinter dem Rücken und zerrten ihn ins Wohnzimmer. Sie richteten eine Pistole auf meine 14 Monate alte Tochter und mich. Männliche Polizeibeamte durchsuchten meinen Kleiderschrank. Als ich sie darauf hinwies, dass sie das nicht dürften, sagten sie: ‚Es gibt hier keine Polizistinnen, es gibt nur uns‘, und durchwühlten meine persönlichen Sachen. Sie beleidigten und bedrohten mich, weil ich Briefe aus den Gefängnissen erhalten hatte, in denen Rechtsverletzungen beschrieben wurden. Während ich versuchte, meine weinende Tochter zu beruhigen, wollte ich gleichzeitig diese Ungerechtigkeit verhindern. Es gelang mir, mich mit dem Baby auf dem Arm in den Flur zu kämpfen, wo mittlerweile mein Mann war. Eren wurde dort mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt festgehalten. Die Handschellen saßen sehr fest. Sie durchwühlten das Haus. Sie beschlagnahmten unrechtmäßig USB-Sticks mit Fotos von unserer Hochzeit und unserem Kind, Zeitungsnotizen und Archive. Sie nahmen Eren mit, ohne ihm auch nur zu erlauben, seinen Schlafanzug auszuziehen oder Schuhe anzuziehen.”
Inhaftierung trotz sicherem Alibi und schwerer Erkrankung
Odabaş berichtete, dass ihr Mann anschließend drei Tage auf der Polizeistation Vatan festgehalten wurde. Drei Personen, die sich als Geheimdienstmitarbeiter ausgaben, setzten ihn unter Druck, als Spitzel zu arbeiten. Ihr Mann habe sich geweigert. Die Beamten wollten insbesondere Informationen über das Cem-Haus erhalten, in dessen Vorstand er ist. Vor dem Haftrichter seien dann Datenträger als „Beweise“ vorgelegt worden, die sich nicht in der Wohnung befunden hätten, sagte Odabaş und führte aus: „Uns wurde gesagt, dass auf diesen USB-Sticks die Zeitschrift Halk Okulu, ein Videoclip über das Todesfasten und ein Brief gespeichert sei. Aber in unserer Wohnung gab es keine anderen Datenträger, außer solche mit Fotos von der Hochzeit und dem Baby, meinen Notizen für die journalistische Arbeit und dem Archiv. Im Büro des Staatsanwalts wurden Eren zwei Fragen gestellt: Erstens, ob er die beiden Personen kenne, die das Çağlayan-Gerichtsgebäude angegriffen hatten, und zweitens, wie er von dem Angriff erfahren habe. Er antwortete, dass er die beiden Personen nicht kenne und dass er wie alle anderen von dem Anschlag aus den sozialen Medien erfahren habe. Außerdem arbeitete er als Fahrer für ein privates Unternehmen und im Vorstand des Cem-Hauses, sein Aufenthaltsort an dem fraglichen Tag war also bekannt. Trotzdem wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen und das, obwohl bekannt war, dass er Krebs hat. Nachdem er eine Woche in Silivri Nr. 9 verbracht hatte, wurde er in das Hochsicherheitsgefängnis Sincan Nr. 1 verlegt.“
„Der Tumor war die Folge von Folter“
Odabaş berichtete, dass ihr Mann aufgrund einer falschen Anzeige eines Nachbarn, mit dem er sich gestritten hatte, 2016 schon einmal inhaftiert worden war. Damals wurde er im F-Typ-Gefängnis von Edirne inhaftiert und schwer von den Wächtern gefoltert. Danach brach seine Krebserkrankung aus. Im Bein ihres Mannes habe sich nach diesen Folterungen ein 22 Zentimeter großer Tumor gebildet, und nun, während seine Behandlung noch andauere, sei er erneut rechtswidrig verhaftet worden. Die Journalistin erklärte: „Da der Tumor im Muskel und in der Nähe des Knochens lag, wurde auch als er wieder draußen war keine Operation durchgeführt. Stattdessen wurden ihm bestimmte Medikamente verabreicht. Diese haben starke Nebenwirkungen, insbesondere auf sein Herz, und die konnten nur unter strenger Aufsicht des Arztes gegeben werden. Seit seiner neuen Inhaftierung wird seine Behandlung verweigert. Als er in das Y-Typ-Gefängnis, das einem Loch gleicht, verlegt wurde, brach er in einer Einzelzelle zusammen. Dann wurde er in eine Drei-Personen-Zelle verlegt. Als ich ihn besuchte, erzählte er mir, dass die Bedingungen sehr schlecht seien. Er sagte, dass sie in einer 32 Quadratmeter großen Zelle für drei Personen untergebracht seien, dass alles automatisiert stattfinde und es nur eine Stunde Hofgang gebe.“
Eine beantragte Verlegung in das Marmara-Gefängnis (Silivri), wo er seine Behandlung in Istanbul fortsetzen könnte, wurde von der Vollzugsbehörde unter Verweis auf das Krankenhaus in Ankara abgelehnt. Allerdings sei ihr Mann bisher nicht behandelt worden. „Sie verlegen meinen Mann nicht und behandeln ihn auch nicht. Als Grund dafür, dass sie ihn nicht verlegen, wird angeführt, dass das städtische Krankenhaus von Ankara das größte Krankenhaus der Türkei sei. Die Ärzte der Onkologie sagen jedoch, dass es keine Rolle spielt, ob es das größte Krankenhaus ist. Sie sagen, dass Erens Behandlung in der medizinischen Fakultät von Çapa fortgesetzt werden sollte, da wo die erste Diagnose gestellt wurde und die auf diesem Gebiet erfahren ist. Ich fürchte um das Leben von Eren.“
„Ich werde Eren da rausholen“
Özge Kar Odabaş warnte, dass im Falle einer Nichtbehandlung das Bein abgenommen werden müsse, und schloss mit den Worten: „Egal, was passiert, ich werde Eren aus diesem dunklen Loch herausholen. Ich werde das egal wie erreichen.“