Der in der Türkei ansässige Menschenrechtsverein IHD hat einen Bericht zu staatlich orchestrierten Entführungen und Spitzelanwerbeversuchen durch das AKP-Regime veröffentlicht. Die Organisation hält in dem Sonderbericht fest, dass türkische Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden mit äußerst repressiven Methoden und Einschüchterungstaktiken bei Befragungen versuchen, politisch aktive Menschen mundtot zu machen oder falsche Zeugenaussagen für Prozesse gegen politische Gegner zu erpressen. Der IHD hat 71 solcher Fälle im vergangenen Jahr erfasst, geht allerdings von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus. „Die Opfer scheuen den Gang zur Staatsanwaltschaft oder zu uns“, unterstreicht der Verein.
Die in dem Bericht vorgelegten Zahlen sind alarmierend: Laut IHD wandten sich allein in Istanbul 36 Menschen wegen der staatlichen Verfolgung an die Menschenrechtsorganisation. In Izmir und der nordkurdischen Metropole Amed (Diyarbakir) waren es jeweils acht, in Ankara sogar 13, in Êlih (Batman) weitere fünf Menschen und in Meletî (Malatya) eine Person.
61 der Betroffenen wurden in Polizeigewahrsam oder anderen Orten, an denen sie festgehalten wurden, mit dem unwürdigen Versuch der Spitzelanwerbung konfrontiert. Dreizehn von ihnen sind von Polizisten entführt und unter Druck gesetzt worden, als Spitzel zu arbeiten. Offiziell galten sie allerdings nicht in Gewahrsam. Fünf weitere Personen gaben an, von Staatsanwälten oder anderweitigen Sicherheitskräften während ihrer Haft Spitzelanwerbeversuchen gegenübergestanden zu haben.
Anvisierter Personenkreis: Studenten, Parteimitglieder, Medienschaffende
Zu den Repressionsmethoden und Einschüchterungstaktiken gegenüber dem anvisierten Personenkreis hält der IHD fest: „Wir können feststellen, dass es sich größtenteils um Studierende, Mitglieder von politischen Parteien, Medienschaffende und Angehörige von politischen Gefangenen handelt, die von diesen Maßnahmen staatlicher Kräfte betroffen sind. Es sind Mitarbeiter des Geheimdienstes und des Dezernats für Terrorbekämpfung der türkischen Polizei, welche die Betroffenen bedrohen und sie psychischer Folter aussetzen. Es ist fast immer das gleiche Schema: Die Beamten sind im Besitz sensibler Informationen über diese Personen und geben vor, bei Problemen helfen zu wollen. Ihnen werden Verhaftungen, Entführungen, Folter und Tod angedroht, sollten sie sich nicht als Spitzel betätigen. In einigen Fällen geht es so weit, dass Menschen verschleppt, monatelang gegen ihren Willen an unbekannten Orten festgehalten und körperlicher sowie psychischer Folter ausgesetzt werden. Ayten Öztürk, die erstmals bei ihrem Prozess am 13. Juni 2019 ausführlich von ihrem sechs Monate andauernden Martyrium berichten konnte, ist nur eine von ihnen.“
Der Fall Ayten Öztürk
Der Fall von Ayten Öztürk ist besonders dramatisch und weckt Erinnerungen an die dunklen Jahre der 1990er, als Menschenrechtsverletzungen, Folter, Gräueltaten und außergerichtliche Tötungen an der kurdischen Bevölkerung an der Tagesordnung waren.
Ayten Öztürk stammt aus einer arabischstämmigen Familie aus Syrien. Die Universitätsabsolventin lebte mit ihrer Familie in der südtürkischen Provinz Hatay, später dann in Syrien und dem Libanon. Am 13. März 2018 - Öztürk wollte nach Griechenland reisen - wurde sie am Flughafen Beirut festgenommen und von libanesischen Beamten an türkische Sicherheitskräfte übergeben. Anschließend wurde sie mit einem Privatflugzeug in die Türkei geflogen. In dem fast sechs Monate anhaltenden Aufenthalt in einem geheimen Folterzentrum war Öztürk schwerster Folter ausgesetzt. Sie bekam Stromschläge an verschiedene Stellen des Körpers, darunter ihre Brustwarzen. Mit Peitschen wurden auf ihre Beine und Fußsohlen eingeschlagen, mit Schlagstöcken wurde sie vergewaltigt. Dutzende Foltermethoden wie das Waterboarding, Zwangsernährung, Verbrennen der Finger und das sogenannte Pfahlhängen sind an ihr ebenfalls angewendet worden. Außerdem wurde sie in eine Kiste eingesperrt, die ihre Peiniger als „Sarg“ bezeichneten.
868 Wunden an ihrem Körper
Öztürk wurde von Männer gefoltert, die betonten, sie hätten Wissen über die menschliche Anatomie. Ihr Körper sei bei der Folter mehrfach kollabiert, erzählte die Frau vor Gericht. In solchen Fällen sei ein spezielles Team gekommen und habe sie medizinische behandelt. Danach wurde die Folter fortgesetzt. Über dem Foltertrakt habe sie Schritte wahrgenommen, die an Frauenschuhe erinnern. Deswegen vermutet sie im Kellertrakt eines offiziellen Gebäudes festgehalten worden zu sein. Im Gefängnis zählte man später 868 Wunden an ihrem Körper, die durch die Folter entstanden sind.
Nachdem bekannt wurde, dass Angehörige in Erfahrung gebracht hatten, dass Ayten Öztürk aus dem Libanon völkerrechtswidrig in die Türkei verschleppt worden war, wurde sie am 28. August 2018 in einem offenen Gebiet in Ankara ausgesetzt und praktisch der Polizei übergeben. Diese brachte Öztürk auf das Polizeirevier der Antiterrorpolizei TEM. Damit fing offiziell ihre Untersuchungshaft an.
Entführung von angeblichen Gülen-Unterstützern
Der IHD macht in seinem Bericht auch auf das Schicksal von sechs Männern aufmerksam, nach denen wegen ihre angeblichen Nähe zur Gülen-Gemeinde gefahndet wurde. Salim Zeybek, Gökhan Türkmen, Erkan Irmak, Yasin Ugan, Özgür Kaya und Mustafa Yılmaz verschwanden im Februar 2019 spurlos. Laut Zeugenaussagen waren sie gewaltsam entführt worden. Fast ein halbes Jahr später - und nach Beschwerden beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - teilte die Polizeidirektion in Ankara den Angehörigen von Zeybek, Irmak, Ugan und Kaya mit, dass die Männer am 28. Juli 2019 bei einer zufälligen Personenkontrolle gefasst worden seien. Sie waren angeblich in der Umgebung des Polizeigebäudes mit Rücksäcken unterwegs. Zwölf Tage lang wurde Anwälten der Zugang zu den Betroffenen verweigert. Ihre Angehörigen durften sie erst viel später sehen.
Von Yusuf Bilge Tunç, der am 6. August 2019 entführt wurde, gibt es bis heute kein Lebenszeichen, so der IHD. Offenbar wurde er gewaltsam „verschwunden gelassen“.
Forderungen des IHD
Der Menschenrechtsverein IHD hat eine Reihe von Forderungen gestellt, damit die strafrechtliche Verfolgung der Täter durch staatliche Behörden gewährleistet wird. Außerdem setzt sich der Verein für die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission ein, die Beschwerden auswerten und die Strafverfolgung überwachen soll. Darüber hinaus fordert der IHD die parlamentarische Kontrollkommission auf, einen Unterausschuss einzusetzen, der illegale Aktivitäten sowie Rechts- und Regelverstöße sämtlicher Nachrichtendienste in der Türkei untersucht.