Es ist eine zerstörerische und entwürdigende Realität, denen politische Gefangene in der Türkei ausgeliefert sind. Kategorisiert als „Feinde“ des Staates werden sie außerhalb des geltenden Rechts gestellt: Gewalt und Folter, Isolation, Verlegungen in weiter Entfernung von der Familie, Zensur, die Verweigerung von Besuch und Gesundheitsversorgung, die unmenschliche Einkerkerung von todkranken Menschen und das Festhalten von Gefangenen für Jahrzehnte gehören zum grausamen Alltag in türkischen Haftanstalten. Als besonders dramatisch gilt die Situation für kranke Gefangene, die trotz bestehender Haftunfähigkeit nicht freigelassen und einem schleichenden und quälenden Tod ausgesetzt werden. Aber in der Öffentlichkeit herrscht weites Schweigen.
Um dem entgegenzuwirken, haben sich Angehörige von politischen Gefangenen im November vergangenen Jahres zur Initiative „Wache für Gerechtigkeit“ zusammengeschlossen. Sie wollen die extreme Repression und die ständigen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen sichtbar machen und die Einhaltung rechtlicher Standards erkämpfen. Es gehe darum, gerade im Hinblick auf die Todesfälle in den letzten Wochen zu handeln, bevor es weitere Tote gibt. Dafür brauche es aber einen Aufschrei innerhalb der Öffentlichkeit und den Einsatz der gesamten Zivilgesellschaft – auch im Westen des Landes. Denn staatliche Behörden ignorieren die lebensbedrohlichen und menschenunwürdigen Bedingungen hinter den Gefängnismauern.
Auch vier andere Kinder von Fevziye Kolakan saßen bereits im Gefängnis
Durchgeführt wird die Gerechtigkeitswache in den Räumlichkeiten der Anwaltskammer von Amed (tr. Diyarbakir) – mittlerweile den 54. Tag in Folge. Beteiligt an der Initiative sind vor allem Mütter von politischen Gefangenen, eine von ihnen ist Fevziye Kolakan. Zwei ihrer Söhne sitzen in Haft: einer im westtürkischen Bandırma und der andere in Sêwreg in der nordkurdischen Provinz Riha (Urfa). Kolakan gibt an, ihren Sohn Ahmet seit Ausbruch der Corona-Pandemie nicht gesehen zu haben. Aufgrund ihrer schlechten finanziellen Lage sei es ihr ohnehin nur alle drei bis vier Jahre möglich, die teure Fahrt von Amed bis Bandırma – gut 1.500 Kilometer – auf sich zu nehmen.
Seit 28 Jahren im Gefängnis
Der heute 47-jährige Ahmet Kolakan ist seit 1993 im Gefängnis. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter eine Herzerkrankung, Niereninsuffizienz und Bluthochdruck, außerdem hat er Magenprobleme. „Ahmets Frau fuhr ihn häufiger besuchen. Doch weil sie die Besuchszeit beim letzten Mal um fünf Minuten überzogen haben sollen, ist meiner Schwiegertochter ein Kontaktverbot erteilt worden“, sagt die 71-Jährige. Den seit acht Jahren in Sêwreg inhaftierten Sohn Mahsun (28) kann Fevziye Kolakan aufgrund der Nähe häufiger besuchen. Doch auch seine gesundheitliche Verfassung sei problematisch, ihm gehe es immer schlechter. „Ob juristische Personen und die Rechtsanwaltskammern oder der Staat: das Dilemma der politischen Gefangenen muss gelöst und ihre Situation geklärt werden. Diese Lösung muss umgehend geschaffen werden, damit unsere Kinder die Gefängnisse lebend verlassen“, fordert Kolakan.
„Sie sehen keine Sonne und bekommen nur geringwertiges Essen“
Eine nicht geringe Zahl der zu tausenden in der Türkei inhaftierten Gewissensgefangenen sitzt seit dreißig Jahren und mehr hinter Gittern. „Dort gibt es kaum Tageslicht. Nur Dunkelheit und Leid. Sie sehen keine Sonne und bekommen nur geringwertiges Essen. Früher war es möglich, den Gefangenen Lebensmittel oder Mahlzeiten von draußen zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile haben sie auch das verboten. Laufend werden die Zellen überfallen und durchsucht. Die Gefangenen werden Opfer von Folter. Obwohl Gemeinschaftsbesuche gar nicht mehr stattfinden, kommt es wöchentlich zu Zellendurchsuchungen. Unsere Kinder befinden sich ohnehin in der Gewalt des Staates. Auf welcher Rechtfertigung fußen dann diese Maßnahmen?“, will Fevziye Kolakan wissen.
„Denn unsere Söhne und Töchter gehen in den Knästen zugrunde“
An die Angehörigen anderer politischer Gefangener appelliert Fevziye Kolakan, sich der Gerechtigkeitswache in Amed anzuschließen: „Insbesondere die Mütter der Gefangenen sollten beteiligt sein an dieser Initiative, um für die Freiheit ihrer Kinder zu kämpfen. Denn unsere Söhne und Töchter gehen in den Knästen zugrunde. Wir müssen etwas tun und wir müssen es jetzt tun. Aktive im Zivilrecht müssen uns unterstützen und beistehen. Unsere Kinder sind für die Rechte und Freiheiten von uns allen im Gefängnis. Sie haben nichts verbrochen. Es ist unsere Pflicht, sie zu schützen.“