Der Mann seit 26 Jahren, der Sohn seit 18 Jahren in Haft

Wer die kurdische Realität kennenlernen will, muss die Gerechtigkeitswache von Angehörigen politischer Gefangener in Amed besuchen. Hasine Gülers Mann ist seit 26 Jahren im Gefängnis, ein Sohn seit 18 Jahren. Ein weiterer Sohn ist gefallen.

Die Bedingungen in den Haftanstalten in der Türkei werden immer dramatischer. Für erkrankte Gefangene sind diese Umstände tödlich. In den letzten Monaten hat der politische Umgang mit inhaftierten Kranken eine geplante Dimension angenommen und zu mindestens sieben Toten geführt. Ein neues Vollzugsgesetz blockiert zudem die Freilassung von Gefangenen, die ihre Strafe abgesessen haben und keine Reue bekunden. Der politische Vernichtungsfeldzug gegen die Kurd:innen konzentriert sich momentan auch auf die Gefängnisse.

Seit Mitte November führen Angehörige politischer Gefangener eine „Gerechtigkeitswache“ in den Räumlichkeiten der Anwaltskammer von Amed (tr. Diyarbakir) durch. Das Ziel der Initiative ist es, einen Aufschrei innerhalb der Öffentlichkeit zu bewirken und die gesamte Zivilgesellschaft zum Handeln für die politischen Gefangenen zu bewegen – auch im Westen des Landes. In Sorge um das Leben ihrer inhaftierten Angehörigen fordern die Menschen die Einhaltung rechtlicher Standards.

Eine dieser Aktivist:innen ist Hasine Güler. Ihr Mann Sidik ist seit 26 Jahren im Gefängnis, ihr Sohn Habip seit 18 Jahren. Beide haben schwere Gesundheitsprobleme, Hasine Güler fordert die Aussetzung des Strafvollzugs. Yakup, ein weiterer Sohn, ist bei der Guerilla ums Leben gekommen und an einem unbekannten Ort begraben.

Verhaftung beim Morgengebet

Von der Verhaftung ihres Mannes berichtet Hasine Güler: „Als die Sicherheitskräfte in unser Haus eindrangen, war mein Mann gerade beim Morgengebet. Er wurde wegen eines Vorfalls verhaftet, mit dem er nichts zu tun hatte. Obwohl er nichts getan hat, ist er seit 26 Jahren im Gefängnis. Nach seiner Verhaftung war es für uns als Familie sehr schwer. Einmal wurde er freigelassen und nach Eintreten der Rechtskraft seiner Verurteilung erneut inhaftiert. Er war zunächst im Gefängnis von Diyarbakir, danach wurde er nach Aydin und von dort aus an weitere Orte verlegt. Zuletzt wurde er in die Haftanstalt von Iskenderun gebracht. Mein Mann hat drei Herzoperationen und eine Operation am Auge hinter sich. Sogar zum Arzt wird er in Handschellen gebracht. Er hat sich mit Corona infiziert und war drei bis vier Monate in Quarantäne.“

Sohn bei der Guerilla

Hasine Gülers Sohn Habip war bei der Guerilla und ist vor 18 Jahren in Heskîf (tr. Hasankeyf) gefasst worden. Seitdem ist er im Gefängnis. Er hat gesundheitliche Probleme an den Augen und Beinen, erzählt seine Mutter: „Als Familie tun wir, was wir können, aber das reicht nicht aus. Seit 26 Jahren fahren wir zum Gefängnis. Für uns ist jeder Tag ein neuer Tod, nachts können wir nicht schlafen. Als mein Mann festgenommen wurde, haben sie auch zwei meiner Töchter mitgenommen. Mir haben sie Zähne ausgeschlagen. Aus unserem Dorf waren wir schon vorher vertrieben worden. Wir wurden zu einem Leben mit unzureichenden Mitteln in der Stadt gezwungen. Niemand gab uns eine Wohnung. In wirtschaftlicher Hinsicht ging es uns sehr schlecht. Und als ob das nicht ausreichen würde, wurden mir auch noch mein Mann und mein Sohn genommen.“

Den eigenen Sohn nicht wiedererkannt

„Als mein Sohn gefasst wurde, habe ich ihn nicht wiedererkannt, wir hatten uns vorher 15 Jahre nicht gesehen“, erzählt Hasine Güler: „Als er noch in Diyarbakir war, konnte ich ihn besuchen. Seit drei Jahren ist er jedoch in Kandira. Weil ich krank bin und keine langen Reisen machen kann, kann ich ihn nicht mehr sehen. Das ist sehr hart für mich.“

Gefallener Sohn an unbekanntem Ort begraben

Yakup, ein weiterer Sohn, ist als Guerillakämpfer im kurdischen Befreiungskampf ums Leben gekommen. „Viele Jahre, nachdem er gegangen war, kam die Nachricht, dass er in Kulp gefallen ist. Zusammen mit zwanzig weiteren ist er in eine Falle geraten. Sie wurden in einem Haus vergiftet und dem Staat ausgeliefert. Als ob die Vergiftung nicht ausgereicht hätte, wurden sie auch noch mit Kugeln durchsiebt. Drei der Leichen wurden aus einem Hubschrauber geworfen. Zwei waren ohnehin Kollaborateure, auch sie wurden weggebracht. Die Leichen der übrigen 15 lagen sieben Monate im Gelände. Die Menschen aus dem Dorf haben gefordert, dass sie weggeschafft werden. Daraufhin hat der Staat sie irgendwo begraben, aber wir wissen nicht, wo. Unsere Herzen haben sehr gelitten und brennen noch immer. Trotzdem wollen wir Frieden und Gleichheit“, so Hasine Güler.