Seit inzwischen 454 Wochen initiiert die Gefängniskommission der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD jeden Samstag eine „F-Sitzung“ (in Anlehnung an das türkische Gefängnissystem Typ-F), um auf die Situation von kranken politischen Gefangenen aufmerksam zu machen. Normalerweise werden Mahnwachen auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im zentralen Stadtteil Beyoğlu gestaltet, coronabedingt finden die Sitzungen derzeit virtuell statt. Die heutige Aktion wurde Abdullah Turan gewidmet. Einleitend trug der Menschenrechtler Mehmet Acettin die Geschichte des 33-jährigen vor.
Abdullah Turan ist derzeit im R-Typ-Gefängnis Metris in Istanbul in einer Dreierzelle inhaftiert. Es handelt sich um eine geschlossene Vollzugsanstalt für Frauen, Männer und Kinder mit körperlicher oder seelischer Behinderung. Bei seinen Zellengenossen handelt es sich um Ergin Aktaş (32), der im Jahr 2011 beide Hände verlor, als während einer Demonstration in der nordkurdischen Provinz Agirî (türk. Ağrı) eine Bombe explodierte, und Serdal Yıldırım (27), der aufgrund eines Unfalls in Qoser (Kızıltepe) seit zehn Jahren querschnittsgelähmt ist. Turan selbst ist vom Hals abwärts gelähmt. Ende 2018 beteiligte er sich im Gefängnis von Trabzon an der von Leyla Güven initiierten Hungerstreikbewegung gegen die Isolation von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Am 60. Tag seiner Aktion sprang er kopfüber vom Hochbett, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Inhaftiert wurde Abdullah Turan auf Grundlage des türkischen Antiterrorgesetzes: er hatte sich eine Zeitlang in Nordsyrien am Kampf gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat” (IS) beteiligt.
Abdullah Turan eine „Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft“?
Das rechtsmedizinische Institut von Istanbul hat Turan, der neben einer Herzschwäche und der Blutdruckkrankheit an etlichen Druckgeschwüren (offene Wunden, die durch Unbeweglichkeit entstehen) leidet, mehrmals bescheinigt, dass er in dem Zustand nicht länger im Gefängnis verbleiben kann. Mehrmals startete sein Verteidigerteam daraufhin Versuche, eine Freilassung zu erwirken. Dennoch wurden die Anträge des politischen Gefangenen jedes Mal abgelehnt. Zuletzt weigerte sich die Generalstaatsanwaltschaft Bakirköy diese Woche, eine vorzeitige Haftentlassung abzusegnen. Begründet wurde die Entscheidung mit einer Einschätzung des Polizeipräsidiums Diyarbakir (kurd. Amed), Abdullah Turan stelle eine „Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft“ dar.
Nach Angaben der IHD-Gefängniskommission befinden sich derzeit mindestens 1.605 kranke oder beeinträchtige Personen in Haft, 604 von ihnen leiden sogar an schwerwiegenden Erkrankungen. In mehr als 400 Fällen liegt eine Haftunfähigkeitsbestätigung der Gerichtmedizin vor, eine Entlassung aus dem Gefängnis erfolgt trotzdem nicht. „Diese Gefangenen werden praktisch dem Tod überlassen”, sagt Mehmet Acettin. Statt einer vernünftigen und menschengerechten Lösung gehe die türkische Justiz aber weiterhin kompromisslos mit ihnen um und „usurpiere” grundlegende Rechte. „Die Corona-Pandemie macht die Lage der kranken Gefangenen noch bedrohlicher”, so Acettin.
IHD: Kranke Gefangene müssen bedingungslos freikommen
Nach Krankenhausbesuchen, die coronabedingt – und wenn überhaupt – nur in äußersten Notfällen von den Gefängnisleitungen erlaubt werden, kommen Gefangene für vierzehn Tage in der Regel in einer Einzelzelle in Quarantäne. Ganz gleich, ob sie mit infizierten Personen in Kontakt gekommen sind oder nicht. Für Menschen wie Abdullah Turan bedeutet die Maßnahme, dass seine offenen Wunden durch die Mitgefangenen nicht gepflegt werden können. Die Folge sind Infektionen. Eine offene Wunde ist eine ideale Eintrittspforte für krankmachende Bakterien.
Der IHD fordert die sofortige Freilassung von Abdullah Turan. „Wir sind äußerst besorgt, da wir wissen, dass er innerhalb der letzten beiden Wochen gleich zwei Mal in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Er wurde intensivmedizinisch behandelt, weil er an Atemnot leidet. Zudem muss er sich laufend übergeben, fällt in plötzliche Ohnmacht und bekommt Schwindelattacken”, so Mehmet Acettin. Der Menschenrechtler ruft die Öffentlichkeit auf, anlässlich der Aktionswoche zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung an die Regierung zu appellieren, die kranken Gefangenen freizulassen. „Sie alle müssen sofort und ohne Bedingungen freikommen”, verlangt Acettin.
Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung
Der 1992 von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll jedes Jahr am 3. Dezember weltweit das Bewusstsein für ihre Belange schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern.