Laut den jüngsten Zahlen des Menschenrechtsvereins IHD sind derzeit 1333 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen inhaftiert, von denen 478 lebensbedrohlich krank sind. 2019 sind 63 Menschen – 30 davon Schwerkranke – in Haft gestorben. Seit die AKP 2002 an die Macht gekommen ist, sind sogar weıt mehr als 2.500 Gefangene verstorben. Die Zahlen dokumentieren die dramatische Lage in den Gefängnissen der Türkei.
Um auf die Situation von kranken Gefangenen aufmerksam zu machen, veranstalten Aktivist*innen der IHD-Gefängniskommission jeden Samstag in den türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir eine „F-Sitzung“ - in Anlehnung auf das türkische Gefängnissystem Typ-F. Auf den Mahnwachen wird das Schicksal eines Gefangenen behandelt, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
In Istanbul fand heute die bereits 414. F-Sitzung statt. Thematisiert wurde die Situation von Ali Gülmez, das Sit-in konnte jedoch nicht auf dem angestammten Galatarasay-Platz abgehalten werden. Der Zugang auf den Platz in der Fußgängerzone Istiklal Caddesi wird auch den Samstagsmüttern seit anderthalb Jahren unterbunden. Stattdessen wurde die Mahnwache vor der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in der kleinen Seitenstraße Çukur Çeşme abgehalten.
Ali Gülmez ist 51 Jahre alt. Der politische Gefangene befindet sich seit 21 Jahren in verschiedenen Gefängnissen in der Türkei und Nordkurdistan in Haft. Im Moment ist er im F-Typ-Gefängnis in Bolu inhaftiert. Dorthin wurde der zu einer erschwerten lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene aus dem Hochsicherheitsgefängnis Edirne verlegt. In Edirne erkrankte Gülmez an einer chronischen Darmentzündung. Er leidet seitdem an Durchfall, Blutabgängen aus dem Darm sowie permanenten Bauchschmerzen. Zudem plagen ihn Nierensteine und eine Reihe urologischer Erkrankungen. Das feuchte Klima in Bolu stellt den Asthmapatienten zusätzlich vor Probleme.
Die für seine Behandlung dringend benötigten Medikamente muss Gülmez selbst zahlen, da das Gesundheitsministerium nicht dafür aufkommt. Allgemein ist in den Gefängnissen der Türkei der Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen stark eingeschränkt, für politische Gefangene gibt es so gut wie keine Gesundheitsversorgung. Zwar hat sich die Türkei dem Prinzip „Gesundheit für Alle“, das sich die Weltgesundheitsorganisation bei ihrer Gründung auf die Fahne geschrieben hat, auch verpflichtet. Dennoch finden in den Gefängnissen systematische Verstöße statt. Die Problematik betrifft insbesondere politische Gefangene und inhaftierte Journalist*innen. Sevim Kalman, die Bevollmächtigte von Ali Gülmez, weist zudem auf die erschwerten Isolationshaftbedingungen kranker Gefangener hin. Unmenschlische Maßnahmen gehörten mittlerweile zur Norm. Der Tod der kranken Gefangenen werde bewusst einkalkuliert, sagt die Menschenrechtsaktivistin.
Seit Jahren fordert der IHD die Freilassung von Gülmez. Eine Haftentlassung von schwerstkranken Gefangenen ist ohnehin gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings wird sie von den türkischen Justizbehörden in den meisten Fällen verweigert. Das Haftvollzugsgesetz verbaut den aus politischen Motiven inhaftierten Gefangenen gänzlich die Chance auf Haftentlassung, heißt es doch darin: „Wenn aufgrund einer schweren Behinderung oder Krankheit das Leben des Gefangenen durch die Inhaftierung bedroht ist, kann die Haftstrafe ausgesetzt werden, soweit festgestellt wird, dass der Gefangene keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.“ Das bedeutet, dass dieses Gesetz für erkrankte politische Gefangene, die meist nach den umstrittenen Antiterrorgesetzen verurteilt werden, keine Gültigkeit hat.