Ein interner EU-Bericht vom 4. Januar wirft ein deutliches Licht auf den menschenverachtenden Charakter der EU-Migrationspolitik. In einem vertraulichen Militärbericht der Europäischen Union wird dazu aufgerufen, die libysche Küstenwache und Marine trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen weiter zu unterstützen. Der Geheimbericht wurde nun von Associated Press veröffentlicht.
In dem von dem italienischen Marineadmiral Stefano Turchetto, Leiter der EU-Waffenembargo-Überwachungsmission (Operation Irini), erstellten Bericht wird eine „übermäßige Anwendung von Gewalt“ durch die libyschen Behörden eingeräumt und hinzugefügt, dass die EU-Ausbildung „nicht mehr in vollem Umfang befolgt wird“.
Im EU-Bericht wird weiter eingeräumt, dass die „politische Pattsituation“ in Libyen das europäische Ausbildungsprogramm behindert habe, und festgestellt, dass es aufgrund der internen Spaltung des Landes schwierig sei, politische Unterstützung für die Durchsetzung „angemessener Verhaltensnormen ... im Einklang mit den Menschenrechten, insbesondere im Umgang mit irregulären Migranten“ zu erhalten.
Die Europäische Kommission und der Auswärtige Dienst der EU – das Äquivalent der Außenministerien der EU-Mitgliedsstaaten – lehnten eine Stellungnahme zu dem Bericht ab. Sprecher Peter Stano bestätigte jedoch, dass die EU entschlossen ist, Personal der Küstenwache auszubilden und Libyens Kapazitäten zur Verwaltung eines großen Such- und Rettungsgebiets im Mittelmeer zu stärken. Das EU-Schulungsprogramm „bleibt auf dem Tisch, um die Fähigkeit der libyschen Behörden zur Rettung von Menschenleben auf See zu verbessern“, sagte Stano.
Währenddessen sind die schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von der libyschen Küstenwache und ihren Komplizen in Folterlagern für aufgegriffene Schutzsuchende, nicht mehr totzuschweigen. Mindestens drei Anträge wurden beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht, in denen Ermittlungen gegen libysche und europäische Beamte sowie gegen Schlepper, Milizionäre und andere Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefordert werden. Eine im Oktober veröffentlichte Untersuchung der Vereinten Nationen fand ebenfalls Beweise dafür, dass die in Libyen begangenen Übergriffe „möglicherweise“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.
Erst vergangene Woche hatte der UN-Generalsekretär António Guterres die Länder aufgefordert, „die Politik des Abfangens auf See und die Rückführung von Flüchtlingen und Migranten nach Libyen nochmals zu überprüfen“.
Stano wies diese Kritik zurück und merkte in Ignoranz der Situation an: „Wenn es um Migration geht, ist es unser Ziel, das Leben der Menschen zu retten, die Bedürftigen zu schützen und den Menschenhandel und die Schleusung von Migranten zu bekämpfen.“
„Wie kann es Leben retten genannt werden, wenn diese Leben anschließend gefoltert werden?“
Gegenüber AP erklärt eine Frau aus Kamerun, die 2016 mit ihrem Kind in Libyen ankam: „Die Europäer versuchen sich gut darzustellen.“ Sie berichtet über ihre Geschichte, dass sie verkauft, von ihrer Tochter getrennt und zur Prostitution gezwungen wurde. Im Jahr 2018 stieg sie auf ein Boot in Richtung Europa, aber ihre Gruppe wurde von den libyschen Behörden gefasst und in das berüchtigte Tajoura-Gefangenenlager gebracht. Dort wurde sie wie die anderen Gefangenen auch geschlagen und misshandelt. Sie wurde erst freigelassen, nachdem ein Freund ein Lösegeld von 700 Dollar an die Wärter gezahlt hatte. Sie kritisiert die Äußerungen der EU-Vertreter: „Sie nennen es Leben retten? Wie kann es Leben retten genannt werden, wenn diese Leben gefoltert werden, nachdem sie gerettet wurden?“
Folterer zum Leiter der libyschen Migrationsbehörde ernannt
Trotz Bekundungen der EU, die Internierung von Schutzsuchenden in diesen Lagern müsse enden, hat sich an der Situation nichts geändert. Die libysche Regierung hat im vergangenen Monat Mohammed Al-Khoja, einen Milizenführer, der in Misshandlungen von Schutzsuchenden beteiligt war, zum Leiter der „Abteilung für die Bekämpfung der irregulären Migration“ ernannt, die für die berüchtigten Haftzentren zuständig ist. „Die Leute, die für die Zerschlagung des Menschenhandels zuständig sind, sind selbst Menschenhändler“, sagte Violeta Moreno-Lax, Gründerin des Programms für Einwanderungsrecht an der Queen Mary University of London.
In dem EU-Bericht wird die „übermäßige Anwendung physischer Gewalt“ durch eine libysche Patrouille beim Abfangen eines Holzbootes mit etwa 20 Schutzsuchenden am 15. September vor der libyschen Küste festgestellt. Sie machte keine weiteren Angaben zu den genauen Vorgängen.
Das gewaltsame Vorgehen der libyschen Behörden auf See ist seit Jahren gut dokumentiert. Letzte Woche berichteten zivile Seenotretter:innen, sie hätten gesehen, wie ein libysches Patrouillenschiff „auf eine Person schoss, die ins Wasser gesprungen war“.
455 Millionen Euro für Libyen
Seit 2015 wurden rund 455 Millionen Euro (516 Millionen US-Dollar) aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika für Libyen bereitgestellt, wovon ein erheblicher Teil in die Finanzierung von Migration und Grenzschutz floss. Laut einer AP-Untersuchung aus dem Jahr 2019 sind jedoch große Summen davon an Netzwerke von Milizionären und Menschenhändlern geflossen, die in die Ausbeutung von Schutzsuchenden verwickelt sind. Mitglieder der Küstenwache machen sich ebenfalls mitschuldig, indem sie Schutzsuchende, die auf See abgefangen werden, im Rahmen von Deals mit Milizen an Haftanstalten übergeben oder Schmiergelder für die Freilassung anderer fordern. Dies hat auch die Bundesregierung mehrfach auf Kleine Anfragen hin eingeräumt.
Mit EU-Geldern, die größtenteils über Italien abgewickelt wurden, wurden Mitarbeiter der sogenannten libyschen Küstenwache ausgebildet und Boote für die libyschen Behörden instand gesetzt. Die libysche Küstenwache erhielt außerdem Satellitentelefone und Uniformen und wird in den nächsten zwei Jahren drei neue Patrouillenschiffe erhalten.
Um die kleinen, seeuntüchtigen Boote im Mittelmeer abzufangen, sind die libyschen Behörden auch auf die Überwachung durch europäische Drohnen, Flugzeuge und Radargeräte angewiesen, auf die sie zugreifen kann. Im vergangenen Jahr hat die libysche Küstenwache mehr als 32.000 Schutzsuchende aufgegriffen und nach Libyen gebracht, fast dreimal so viele wie im Jahr 2020. Viele von ihnen verschwanden in libyschen Folterlagern. Aber auch trotz all der Ausrüstung und Ausbildung, die Libyen zur Verfügung gestellt wurde, um Leben zu retten, starben im vergangenen Jahr mehr als 1.500 Menschen auf See oder werden vermisst – die höchste Zahl an Todesopfern seit 2017.