Emine Şenyaşar wird ihre „Gerechtigkeitswache” für ihre ermordeten Familienangehörigen wiederaufnehmen. Alle Versprechungen des türkischen Justizministeriums, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, seien nicht eingehalten worden. „Die Regierung hat ihre Zugeständnisse ohnehin erst gemacht, nachdem bereits Jahre des Kampfes für Gerechtigkeit und gegen die Unterdrückung unserer Forderungen vergangen waren“, sagte Şenyaşars Sohn, der DEM-Abgeordnete Ferit Şenyaşar, am Montag vor Medienschaffenden im Parlament. Das sende das fatale Signal, das ungerechte Zustände und friedlicher Protest dagegen nicht gehört werde.
Emine Şenyaşar ist die Witwe von Hacı Esvet Şenyaşar und Mutter der gemeinsamen Söhne Celal und Adil. Die drei Männer wurden wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 in der Kreisstadt Pirsûs (tr. Suruç) Opfer von Lynchmorden, die am Rande einer Wahlkampftour des AKP-Politikers Ibrahim Halil Yıldız durch dessen bewaffnete Bodyguards und Verwandte ausgeführt wurden. Die türkischen Justizbehörden zeigten kein Interesse daran, die Morde restlos aufzuklären. Yıldız sowie ein Großteil seiner Mafiabande genießen bis heute ein Leben in Freiheit, nur einer von zwei Dutzend Angreifern wurde bisher verurteilt. Allerdings zu einer symbolischen Strafe von 18 Jahren, die er nur zu zwei Dritteln absitzen muss.
Dagegen wurde mit Fadıl Şenyaşar ein Überlebender wegen der Tötung eines Angreifers zu einer knapp 38-jährigen Haftstrafe verurteilt. Das, obwohl relativ schnell nachgewiesen worden war, dass der Mann von seinen eigenen Leuten getötet wurde. Um die Bestrafung der Mörder ihrer Familienmitglieder und die Freilassung ihres Sohnes einzufordern, initiierte die Seniorin im März 2021 eine Mahnwache vor dem Justizpalast in Riha (Urfa), die sie an ihrem 846. Tag beendete – aber nur, um sie vor das Justizministerium in Ankara zu verlegen. 49 Tage später erklärten sich Regierungsvertreter zu einem Gespräch mit Şenyaşar bereit und versicherten ihr, das der Familie angetane Unrecht wiedergutzumachen. „Der Justizminister und seine Vertreter sagten, dass sie sich im Klaren darüber seien, uns unfair behandelt zu haben. Wir müssten Geduld aufbringen, forderten sie“, sagte Ferit Şenyaşar. Nun, fünf Monate des Wartens, ohne dass sich etwas getan hätte, habe seine Mutter den Entschluss gefasst, wieder auf die Straße zu gehen.
Dass die Entscheidung zur Wiederaufnahme der Gerechtigkeitswache jetzt getroffen wurde, liege unter anderem auch daran, dass Fadıl Şenyaşar im Gefängnis mit Repression überzogen werde. So sei sein Recht auf Telefonkontakte ohne Angabe von Gründen von den Vollzugsbehörden eingeschränkt worden. Statt einmal in der Woche dürfe er nur noch alle 14 Tage mit seinen Angehörigen telefonieren. „Die Gerechtigkeit, die meine Mutter mit ihrer Aktion anstrebt, gilt für uns alle. Deshalb kämpft sie, und deshalb kämpfen wir. Um allen Menschen, die sie brauchen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Bereits heute wolle Emine Şenyaşar mit ihrem Protest starten – beim gemeinsamen Fastenbrechen mit ihrem Sohn Ferit.