Die Türkei hat mit der Verurteilung eines Studenten wegen Beleidigung von Recep Tayyip Erdoğan gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am Dienstag urteilte (19165/19), sei der ehemalige Student der ODTÜ-Universität in Ankara, Ömür Çağdaş Ersoy, 2016 zu Unrecht für negative Kommentare über den damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatschef zu einer Geldstrafe verurteilt worden.
Die von der türkischen Justiz beanstandeten Äußerungen über Erdoğan tätigte Ersoy im Jahr 2012 bei einer Kundgebung vor dem Justizpalast Ankara. Mit der Aktion damals wurde gegen die Festnahme mehrerer Studierender demonstriert, die zuvor bei Protesten gegen einen Besuch Erdoğans bei der ODTÜ gewaltsam in Gewahrsam genommen worden waren. Ömür Çağdaş Ersoy hatte während einer öffentlichen Debatte gesagt, die AKP regiere das Land „diktatorisch“ und Erdoğan behandele seine Hochschule als eine „Festung, die erobert werden müsste”. Den Frust über sein Scheitern ließe der AKP-Chef „in Rachsucht und wie ein tollwütiger Hund“ an der Studierendenschaft aus. Ankara muss dem ehemaligen Studenten nun 4.000 Euro zahlen.
EGMR beanstandet weiteren Fall der Missachtung von Meinungsfreiheit
Auch in einem weiteren Fall von Meinungsfreiheit wurde die Türkei gestern verurteilt. Der EGMR befand, dass eine Reinigungskraft des Bildungsministeriums in Adana zu Unrecht wegen mehrerer Facebook-Likes entlassen wurde. Die türkischen Behörden hätten keine ausreichenden und relevanten Gründe für die fristlose Kündigung der Vertragsarbeiterin gegeben, heißt es in dem Urteil (35786/19).
Kern des Rechtsstreits sind mehrere Beiträge auf Facebook, die die Frau mit einem „Like” versehen hatte. In den Posts wird dem Gericht zufolge unter anderem zu Protesten aufgerufen und Missbrauch an Schüler:innen angeprangert. Nachdem Ermittlungen gegen die Frau eingeleitet worden waren, wurde sie in diesem Zusammenhang wegen Verstößen gegen Arbeitsvereinbarungen als Reinigungskraft im Bildungsdirektorat des Kreises Seyhan entlassen. Die Inhalte der Beiträge würden wahrscheinlich den Frieden des Arbeitsplatzes stören, befand ein türkisches Arbeitsgericht und lehnte ihre Berufung ab.
Posts waren von Meinungsfreiheit gedeckt
Der Richter:innen in Straßburg urteilten jedoch, dass die fraglichen Posts sich auf Themen von öffentlichem Interesse bezogen und Eingriffe in das Recht auf Meinungsfreiheit hier nur sehr begrenzt zu rechtfertigen seien. Die Behörden hätten es außerdem verfehlt, den potenziellen Einfluss der Likes zu beurteilen. Wegen ihrer Position habe die Klägerin wohl nur wenig Einfluss an ihrem Arbeitsplatz gehabt. Sie bekommt nun 2.000 Euro aus der türkischen Staatskasse.