Der vorläufige Bericht über den Workshop „Auf dem Weg zur Lösung in der muttersprachlichen Bildung: Möglichkeiten, Hindernisse, Vorschläge“ wurde veröffentlicht. Die Veranstaltung wurde von der Zweigstelle Amed (tr. Diyarbakır) der Bildungs- und Wissenschaftsgewerkschaft (Eğitim Sen) organisiert und dauerte zwei Tage. Stran Jiyan, Mitglied von Eğitim Sen in Amed, stellte den Bericht vor.
Ein demokratisches Recht auf Bildung für alle
Stran Jiyan betonte, dass Bildung ein Grundrecht sei und daher jedem Menschen bedingungslos zustehe. Der Ansatz einer zentralisierten staatlichen Struktur, die Vielfalt ignoriert und zu eliminieren versucht, schafft Jiyan zufolge erhebliche Hindernisse für die volle und effektive Ausübung des Rechts des Einzelnen auf Bildung. „Es liegt in der Verantwortung des Staates“, sagte sie, „dafür zu sorgen, dass die Forderungen des Einzelnen nach Bildung, Lernen, Lehren und Selbstverwirklichung durch Garantien erfüllt werden, die sowohl durch lokale als auch durch universelle rechtliche Rahmenbedingungen gegeben sind.“
Muttersprachliche Bildung und sozialer Frieden
Stran Jiyan erklärte, dass die politische Agenda der Türkei, der internationale politische Kontext, der Kampf des kurdischen Volkes und die sozialen Bedürfnisse im Lande erneut die Möglichkeiten für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ins Gespräch gebracht haben. Sie merkte an: „Als gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Organisation hat Eğitim Sen es für notwendig befunden, in ihrem eigenen Wirkungsbereich eine tiefgreifende Diskussion darüber zu führen, wie muttersprachliche Bildung zum sozialen Frieden beitragen kann.
Der umfassende Workshop, der Bereiche wie Sprache, Kultur, Literatur, Wissenschaft, Recht und Politik zusammenbrachte, lieferte Einschätzungen und Empfehlungen zu Sprachenrechten, die diesen Prozess beleuchten können. Während des zweitägigen Workshops haben wir die wichtigsten Schwerpunkte der Themen ermittelt. Die von uns gebildeten Fokus-Gruppen zu Recht (Verfassungsbestimmungen), Pädagogik und globalen Erfahrungen legten hierbei ebenso den Grundstein für eine effektive Diskussion der Herausforderungen wie die Frage nach der Ausgestaltung unseres alternativen demokratischen Bildungsmodells.“
Die Verfassung von 1982
Jiyan zeichnete die Entwicklung kultureller Minderheitenrechte in der türkischen Geschichte nach. Während im Osmanischen Reich partiell dezentralisierte Strukturen in gewissem Rahmen die Bewahrung kultureller Identitäten erlaubten, habe sich dies ab dem 19. Jahrhundert durch die Bemühungen um ein zentralisiertes System verändert. Die Gewerkschaftsvertreterin sagte: „Mit der Verfassung von 1924 wurde die Zentralisierung absolut, und die Rechte aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften wurden entweder gänzlich verweigert oder ihre Ausübung wurde unmöglich gemacht. Die Verfassung von 1982, ein Produkt des Putsches vom 12. September, verankerte die Zerstörungs- und Verleugnungspolitik, die sich auf den türkischen Nationalismus konzentrierte, als „unveränderliche und nicht-diskutierbare“ Klauseln. Auf diese Weise wurde die Diskussion über die Rechte der Kurd:innen und anderer Randgruppen faktisch verboten.“
Türkei stellt alle Abkommen unter Vorbehalt
Während des Beitrittsprozesses der Türkei zur Europäischen Union (EU) in den 2000er Jahren kamen Debatten über das Recht auf Bildung in der eigenen Muttersprache auf. Stran Jiyan stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Vorbehalte des Staates gegenüber diesem Recht nie ausgeräumt wurden. Jiyan sagte: „Die Türkei hat Kurdischunterricht als Wahlfach in Mittelschulen eingeführt, angeblich um das Recht auf Bildung in der Muttersprache zu gewährleisten und sinnvolle Diskussionen zu diesem Thema zu vermeiden. Dabei hat sie nicht einmal die Anforderungen dieser Maßnahme erfüllt. Die Türkei macht Vorbehalte zu allen internationalen Abkommen, die das Recht oder die Möglichkeit auf Bildung in der Muttersprache beinhalten, oder weigert sich schlichtweg, diese umzusetzen.“
Wiederbelebung der Sprache ist notwendig
Sprache ist nach Meinung von Jiyan sowohl ein Mittel zur Kontrolle als auch ein politisches Instrument des Staates. Sie erklärte: „Der Mangel an Bildung in der Muttersprache ist eine Form der Unterdrückung mit traumatischen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft. Assimilationspraktiken, die die Muttersprache verleugnen, kommen der Ernennung eines Treuhänders über den Verstand des Einzelnen gleich.“
Die Gewerkschafterin führt aus, dass die Wahrscheinlichkeit das Bildungssystem zu verlassen wesentlich höher sei, wenn die Bildung in der Muttersprache verwehrt bleibt. Dies führe auch zur Verdrängung der Betroffenen aus dem öffentlichen Leben und dem wirtschaftlichen Bereich. Sind die Sprecher:innen nicht vertreten, so werde auch die Sprache quasi aus dem öffentlichen Raum entfernt, was sie schwächt und ihr Ansehen beeinträchtigt. Die Wiederbelebung einer Sprache im öffentlichen Raum könne dem entgegenwirken.
„Damit die Sprachrechte wirklich geschützt werden können, muss die Sprache selbst wiederbelebt werden. Aus diesem Grund muss das kurdische Volk sein Recht auf muttersprachlichen Unterricht in jeder Phase mit Nachdruck verteidigen, dafür sorgen, dass seine Sprache weit verbreitet ist, ein Umfeld schaffen, in dem sie aktiv verwendet wird, und soziale Werte und Instrumente für den Sprachgebrauch entwickeln“, führte Jiyan hierzu aus.
Die Vielfalt der kurdischen Dialekte als Wert
„Im Assimilationsprozess wird denjenigen, die eine andere Muttersprache als die vorherrschende Sprache haben, das Gefühl vermittelt, dass ihre eigene Sprache und Kultur minderwertig sind und keinen Wert haben. Während der Kurmancî-Dialekt mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert ist, sind diese Probleme für den Kirmanckî-Dialekt noch viel gravierender. Sogar die Benennung des Dialekts ist problematisch, da vier verschiedene Bezeichnungen in Gebrauch sind“, führte die Bildungsgewerkschafterin aus.
Den verschiedenen Dialekten würde sich zu wenig gewidmet werden, so Stran Jiyan: „Es gibt erhebliche Lücken in Bezug auf Medien, Veröffentlichungen und Materialien zur Verwendung des Dialekts. Eine Studie über die demografische und geografische Verteilung der kurdischen Dialekte ist erforderlich. Das Kurdische muss als Ganzes mit all seinen Dialekten betrachtet werden, wobei die besonderen Herausforderungen jedes Dialekts identifiziert und die Hindernisse für eine Wiederbelebung beseitigt werden müssen. Es müssen integrative Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass alle kurdischen Dialekte als Bildungsmedien genutzt werden können.“
Eine Perspektive der Frauenbefreiung
Immer wieder setzt Eğitim Sen den Zusammenhang zwischen Sprache und der Entfaltung der eigenen Identität in den Mittelpunkt. In diesem Bezug erklärte Jiyan, dass eine Betrachtung der Frage des Gebrauchs der Muttersprache aus der Perspektive der Frauenbefreiung die genauesten historischen und soziologischen Erkenntnisse bietet. Sie sagte: „Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass seit den frühen Jahren der Republik, insbesondere in den Internaten für Mädchen, das Ziel darin bestand, sie von ihrer Muttersprache zu entfremden und sie dadurch zu assimilieren. Gleichzeitig wurde damit auch die Assimilierung der in der Muttersprache verwurzelten Kultur der Frauen angestrebt.“ Die Bildungsgewerkschaft plädiert daher für die Schaffung von Bildungsräumen, die für Kinder zugänglich sind und an denen auch die Familie teilnehmen kann.
Ökologische, demokratische und frauenbefreiende Dimensionen
„Die sexistische Ideologie des Positivismus, die in allen Lebensbereichen vorherrscht, muss auch im Bildungsbereich bekämpft und abgelehnt werden. An ihrer Stelle sollten Beziehungen des freien Zusammenlebens – in denen Frauen und Männer gleichberechtigt, frei, autonom, harmonisch und produktiv leben – die Grundlage bilden. In diesem Sinne zielen der Ansatz der muttersprachlichen Bildung und die Perspektive der Frauenbefreiung grundsätzlich darauf ab, ökologische, demokratische und frauenbefreiende Dimensionen in den Lernprozess zu integrieren“, führt Stran Jiyan zu dem Thema aus.
Ein demokratisches Bildungsmodell
Sie betonte, dass das demokratische Bildungsmodell im Einklang mit den Grundsätzen einer demokratischen Nation gestaltet werden sollte und erklärte: „Es ist wichtig, dass die Definitionen von zentralisierten und demokratischen Zivilisationen aus dieser Perspektive vorgenommen werden. Bildung sollte sich an Konzepten wie Gedankenfreiheit, Wahrheitsfindung und Selbsterkenntnis orientieren, mit einem Ansatz, der befreiend, ökologisch und gleichstellungsorientiert ist. Ein geschlechter-egalitäres, demokratisches, muttersprachliches Bildungsmodell muss die Beteiligung der Schüler:innen an Entscheidungsprozessen, die Einrichtung von gemeindegeführten Akademien und die Bildung von autonomen Bildungsräten beinhalten. Darüber hinaus sollten Lehrkräfte innerhalb dieses demokratischen Bildungsmodells mit einer Perspektive der demokratischen Zivilisation ausgestattet werden.
„Der Staat muss seine Angst überwinden“
Um sicherzustellen, dass das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für alle Bürger:innen gleichermaßen zugänglich ist, muss ein neuer Verfassungsprozess eingeleitet werden, um diese Rechte gesetzlich zu verankern. Die Verfassung sollte einen Konsens widerspiegeln, der den kollektiven Geist aller Teile der Gesellschaft widerspiegelt und eine echte Garantie darstellt. Daher muss der staatliche Mechanismus als einer der Hauptakteure bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung seine Angst überwinden, dass der muttersprachliche Unterricht zu einer Zersplitterung oder Spaltung führen könnte.“