Die britische Internationalistin Anna Campbell (Şehîd Hêlîn Qereçox) ist am 15. März 2018 bei einem türkischen Angriff auf einen Flüchtlingskonvoi bei Efrîn gefallen. Sie war eine der YPJ-Kämpferinnen, die den Konvoi schützte. Seit nunmehr fast sieben Jahren kämpfen die Eltern von Anna Campbell um die Aushändigung der Leiche ihrer Tochter von den türkischen Behörden. Anna Campbells Vater Dirk Campbell hat sich für die Überführung der Leiche seiner Tochter auf verschiedenen Ebenen eingesetzt.
Da diese Bemühungen erfolglos blieben, wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Campbell erklärte dazu gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA): „Wir mussten uns an die lokale türkische Verwaltung, die für das besetzte Efrîn zuständig ist, das Gouverneursamt von Hatay, wenden. Wir haben ihnen ein Dossier über Menschenrechtsverletzungen vorgelegt. Sie haben nicht geantwortet. Also wandten wir uns an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In unserem Antrag schrieben wir: Wir haben vom Gouverneur von Hatay keine Antwort erhalten. Wir stellen nun folgende Frage an den EGMR: Können Sie die Weigerung der türkischen Verantwortlichen und der türkischen Regierung, den Tod meiner Tochter einzuräumen, wo doch eine Exhumierung und Überführung des Leichnams meiner Tochter notwendig wäre, als Menschenrechtsverletzung einstufen?“
„Es wird Anna nicht zurückbringen, aber es ist das Einzige, was ich tun kann“
Campbell berichtete, dass der Gouverneur von Hatay erst nach dem Antrag an den EGMR begonnen habe, überhaupt irgendetwas zu tun. Der EGMR selbst habe jedoch die Klage nicht akzeptiert, weil der innerstaatliche Rechtsweg in der Türkei noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Campbell sagt, das Verfahren werde in der Türkei verschleppt: „Es wird wohl bis zu drei Jahren dauern, bis ich eine Entscheidung vom Gouverneur von Hatay erhalte. Wahrscheinlich wird das Anliegen abgelehnt werden, dann wird der Fall noch einmal vor den EGMR gebracht, aber das dauert zu lange, und man könnte denken, es sei sinnlos. Es wird Anna nicht zurückbringen, es wird nichts bewirken. Aber es ist wirklich das Einzige, was ich tun kann.“
Campbell war nach dem Tod seiner Tochter zweimal in Rojava. Er berichtete über seine Erfahrungen: „Die Menschen warteten nicht darauf, dass man ihnen sagte, was sie tun sollten. Alle hatten das Gefühl, dass sie selbst zu entscheiden haben und dass sie eine Aufgabe haben, vor allem die Frauen. Ich sah, dass es die Frauen waren, die das Projekt Rojava anführen und das ist sicherlich besonders der Fall in den YPJ und YPG. Die Männer verhalten tendenziell respektvoll den Frauen gegenüber. Ich fand das alles sehr interessant.“
Auch gesellschaftlich sei die Situation in Rojava nicht mit Südkurdistan zu vergleichen, wo ein Familienclan alles beherrsche. Campbell führte aus: „In Rojava habe ich niemanden gesehen, der deprimiert oder ängstlich war. Sie wirkten alle sehr positiv, sehr hoffnungsvoll. Man kann ihre Würde nicht zerstören, denn wenn das Haus eines Menschen in die Luft gesprengt wird, beginnt er am nächsten Tag mit dem Wiederaufbau, auch wenn er weiß, dass es eine Woche später wieder in die Luft gesprengt wird. Das war für mich unglaublich, als ich das verstanden habe.“
„Erdoğans Politik ist niederträchtig und unmoralisch“
Zur Politik des türkischen Staates sagte Campbell: „Die Kurden sagen: ‚Wir haben unsere eigene Sprache, unsere eigene Geschichte und unsere eigene Kultur, und ihr gebt uns nicht die geringste Autonomie, ihr versucht uns zu assimilieren.‘ Was demgegenüber getan wird, ist niederträchtig und unmoralisch. Aber ich muss auch sagen: Die Briten haben das schon lange mit unseren ethnischen Minderheiten gemacht. Erst im letzten Jahrhundert haben wir begonnen, dies als eine schlechte Idee zu erkennen. Davor haben wir Hunderte von Jahren gesagt: ‚Wir müssen die Waliser unterdrücken, wir müssen die Schotten verfolgen. Wir sollten ihnen nicht erlauben, ihre eigene Sprache zu sprechen, denn sie werden nur kommen und Ärger machen.‘ Das ist Erdoğans Perspektive auf die Kurden.“
Die Angriffe auf Rojava werden immer wieder mit dem Vorwand angeblicher Verbindungen zur PKK begründet, sagte Campbell: „Sie sprechen Kurmanci. Ihr Repräsentant ist Abdullah Öcalan. Sie verwirklichen die Ideen Öcalans. Es ist nicht wirklich möglich, zwischen ihnen und den in der Türkei lebenden Kurden zu unterscheiden. Aber er (Erdoğan) sieht darin eine Bedrohung. Auch wenn die Kurden in Syrien sagen: ,Wir haben kein Interesse, eure nationale Integrität zu schädigen. Wir sind nicht daran interessiert, euch zu besetzen oder die PKK zu unterstützen, wir versuchen, hier unsere eigene autonome Region zu errichten, und könnt ihr bitte aufhören, uns daran zu hindern?‘, ignoriert Erdoğan das.“
„Erdoğan ist ein expansionistischer Autokrat“
Campbell fuhr fort: „Wir wissen nicht, wie die Zukunft Erdoğans aussieht. Ich meine, er ist ein Autokrat. Er ist wie Putin. Er will ein Imperium aufbauen. Er will zu den Grenzen der Türkei vor dem Ersten Weltkrieg zurückkehren. Er will nach Süden in Syrien expandieren und die Gebiete annektieren. Er will sich auch nach Osten ausbreiten, so als ob es den Genozid an den Armeniern nicht gegeben hätte, und sich mit den turksprachigen Völkern (Aserbaidschan) vereinen.“
„Die Ideen Öcalans stellen die beste Lösung dar“
Zur Perspektive für den Nahen Osten sagte Campbell: „Ich glaube wirklich, dass Öcalans Ideen jenseits des Nationalstaats die beste Lösung in dieser Situation darstellen. Der Nationalstaat ist eine Idee, die aus Europa importiert wurde. Sie hat vorher nicht existiert. Die Europäer haben sie erfunden. Sie wurde dort importiert, wo sie niemals hätte angewendet werden können. Der Nationalstaat ist einfach eine schlechte Idee. Öcalan betont, dass wir uns nicht auf diese Idee der Nation beschränken dürfen. Man sollte lokale Verwaltungen aufbauen, man kann Grenzen haben, wenn man will. Aber was die Menschen tun müssen, ist, sich dezentral zu organisieren und zu begreifen, dass das (nationalstaatliche) Modell keine zwingende Notwendigkeit ist. Wenn sich diese Idee von Rojava auf andere Regionen ausbreitet, wird das meiner Meinung nach einen großen Teil der derzeitigen Gewalt entschärfen.“
Campbell warnte vor religiösem Fundamentalismus: „Wenn ich jemanden kritisiere und seine Antwort darauf ist, mich zu erschießen, dann bedeutet das, dass es sich um einen wirklich schrecklichen Menschen handelt. Wir sollten in der Lage sein, einander zu kritisieren und zu hinterfragen, ohne uns angegriffen zu fühlen. Unsere Reaktion sollte nicht darin bestehen, die Person, die uns infrage stellt oder kritisiert, zu eliminieren.“