Der Vater der in Nordsyrien ums Leben gekommenen britischen Internationalistin Anna Campbell zieht gegen die Türkei vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Mit einer Beschwerde in Straßburg will Dirk Campbell erwirken, dass der Leichnam seiner Tochter nach Großbritannien überführt wird, berichtet das Nachrichtenmedium Medya News. Denn obwohl die Stelle, an der Anna Campbells sterbliche Überreste liegen, bekannt ist, weigert sich Ankara, in der Sache tätig zu werden. Auch die britische Regierung ist nicht gewillt, sich einzuschalten.
Die Feministin und Aktivistin Anna Campbell war im Mai 2017 nach Rojava gereist, um sich für den Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen. Dort nahm sie den Nom de Guerre Hêlîn Qereçox an und beteiligte sich an Offensiven gegen den IS. Als die Türkei am 20. Januar 2018 die bis dahin nach dem Kantonsprinzip von Rojava selbstverwaltete Region Efrîn völkerrechtswidrig angriff, wirkte Anna Campbell am Schutz der Zivilbevölkerung mit. Am 15. März 2018 kam sie im Alter von 27 Jahren bei einem türkischen Luftangriff ums Leben. An jenem Tag hatte sich in der Nähe von Cindirês ein großer Konvoi weg von der sich rasch nähernden Front bewegt. Der Großteil der rund 300 Menschen waren zivile Personen, die von YPJ- und YPG-Einheiten evakuiert werden sollten. Die Türkei feuerte dennoch Raketen auf die Menge ab. Fast alle im Konvoi befindlichen Menschen wurden getötet.
Anna Campbell am Euphrat in Rojava © YPJ International
Seither drängt Dirk Campbell darauf, die sterblichen Überreste seiner Tochter zu erhalten. Trotz ausführlicher Gespräche mit dem britischen Roten Kreuz und dem Foreign, Commonwealth and Development Office, dem Außenministerium des Vereinigten Königreichs, zeigt die politische Führung in London keinerlei Interesse an der Wahrung von Menschenrecht. Stattdessen soll die Leiche der britischen Staatsangehörigen in der von türkischen Truppen und Dschihadistenmilizen kontrollierten Besatzungszone in Nordsyrien verweilen. Und die Türkei, die ohnehin auf eine lange Geschichte von Akten der Barbarei zurückblickt, sieht noch nicht mal einen Anlass, auf entsprechende Ersuchen von Dirk Campbell zu antworten. Bereits mehrfach wandte sich der Musiker an türkische Behörden für die Gewähr von sicherem Geleit zu dem Ort in Efrîn, an dem seine Tochter getötet wurde. Doch selbst eine Reaktion darauf kann die Besatzermentalität in Ankara offenbar in ihren Grundfesten erschüttern.
Campbell: Der türkische Staat hat meine Tochter getötet
„Der türkische Staat hat meine Tochter getötet. Sie war nicht an einer aggressiven Aktion gegen die Türkei beteiligt, sondern versuchte, die Bevölkerung von Efrîn vor türkischen Angriffen zu schützen“, äußerte Dirk Campbell gegenüber Medya News. Die Behörden der Türkei hätten sich stets geweigert, dies anzuerkennen oder die Verantwortung für Annas Tod zu übernehmen. „Ihr Einmarsch in Syrien ist mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine vergleichbar, bei dem Tausende unschuldiger Zivilisten getötet und vertrieben wurden und Kriegsverbrechen, Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Der Westen geht jetzt gegen Russland vor, aber gegen die Türkei, ein NATO-Mitglied, hat der Westen nie etwas unternommen, obwohl sie in Syrien genau dasselbe getan hat“, so Campbell.
Besetzungsaktion von Anna Campbells Freund:innen bei einer Airbus-Fabrik in einem Vorort von Bristol aus Protest gegen einen Erdogan-Besuch in Großbritannien im Mai 2018 © #BringAnnaHome-Kampagne
Oberstes Verwaltungsgericht der Türkei weist Beschwerde zurück
Im Juli 2021 hatte der Rechtsbeistand von Dirk Campbell beim obersten türkischen Verwaltungsgericht in Ankara einen Antrag auf Durchsetzung seiner Rechte eingereicht und die Bergung und Überführung der Leiche seiner Tochter gefordert. Weil auch dieses Anliegen zurückgewiesen wurde, sieht der 71-Jährige keinen anderen Weg als den Gang nach Straßburg. „Ich bringe meinen Fall vor den EGMR, weil ich hoffe, dass mir dort Gerechtigkeit zuteil wird und die internationale Aufmerksamkeit auf die weit verbreiteten Verbrechen der Türkei gegen die Menschlichkeit gelenkt wird. Ich erhebe Klage gegen die türkische Regierung, weil sie durch ihre Weigerung, die sterblichen Überreste von Anna auszuhändigen, meine Menschenrechte verletzt“, sagte Dirk Campbell. Seine Kanzlei McCue Jury & Partners erklärte, eine Rüge des EGMR gegen die Türkei würde der Familie von Anna ermöglichen, das Ende einer seit über vier Jahren andauernden Prozedur zu finden: sie angemessen zu bestatten und würdevoll zu verabschieden.
Kampagne bei CrowdJustice für Anwaltskosten
Für die Beschwerde beim EGMR ist Dirk Campbell allerdings auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Deshalb hat er auf der Crowdfunding-Plattform „CrowdJustice“ eine Kampagne initiiert, um die benötigten Kosten für Anwaltshonorare und Verfahrensgebühren zu sammeln. „Ich glaube, dass eine Menschenrechtsklage vor dem Straßburger Gerichtshof meine letzte und einzige Hoffnung ist, die sterblichen Überreste meiner Tochter nach Großbritannien zurückzubringen und auch die Türkei für ihr inakzeptables Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Dirk Campbell. Die Hälfte der insgesamt benötigten 10.000 Pfund (umgerechnet knapp 12.000 Euro) wurden bereits gespendet. Um den Kampf für Anna und für Gerechtigkeit nach Straßburg zu tragen, braucht es aber noch etwas an Unterstützung.