Vor einem Jahr, am Vormittag, gut 3500 Kilometer von Deutschland entfernt in der Nähe der Stadt Cindirês im Kanton Efrîn, bewegt sich ein großer Konvoi weg von der sich rasch nähernden Front. Es ist der 55. Tag des Widerstandes gegen die türkische Invasion. Der Großteil der 300 Menschen im Konvoi sind Zivilisten, die evakuiert werden, weg von islamistischen Banden und türkischen Soldaten. Weg von Terror und Tod. Gegen Mittag zeichnen sich die dunklen Schatten türkischer Kampfflugzeuge auf die Hänge der nahen Berge. Zu den Triebwerkgeräuschen der Flugzeuge gesellt sich das tiefe Donnern schwerer Artillerie. Kurze Zeit später sind fast alle der 300 Menschen des Konvois tot. Unter ihnen auch die Internationalistin Anna Campbell (Hêlîn Qereçox).
Im Gedenken an Anna Campbell veranstaltete das Berliner Widerstandskomitee eine Akademie, die ihren Namen trägt. Über 50 Internationalist*innen kamen für ein Wochenende zusammen, um zu lernen und zu diskutieren. Der erste Teil der Akademie begann mit dem Verlesen von Briefen ihrer Freund*innen an Anna Campbell und ihrer eigenen Texte.
Wie die Sonne
Anna Campbell wurde im englischen Lewes geboren und erkannte bereits früh die Ungerechtigkeit der Welt, in der sie aufwuchs. In England beteiligte sich Anna an Tierbefreiungsaktionen und Studentenprotesten. Als Anarchistin lehnte sie sich gegen die Welt der kapitalistischen Moderne auf. Sie kämpfte gegen das staatliche Gefängnissystem und unterstützte inhaftierte Genoss*innen.
Schließlich entschied sie sich nach Syrien zu gehen, um sich als Hêlîn Qereçox in der YPJ an der Revolution von Rojava zu beteiligen. Die Ideale der Frauenbefreiung und Gleichheit aller Menschen, die inmitten des Krieges gelebt wurden, beeindruckten sie tief. Nach ihrem Tod schreiben ihre Freund*innen in der internationalistischen Kommune über Anna: „Du warst wie die Sonne. Du strahltest Licht und Wärme, du gabst allen Menschen Leben, die deinen Weg kreuzten, deswegen liebten dich alle Menschen, die dich kannten, deswegen bewunderten sie dich“.
Von lähmender Ohnmacht befreien
Die Anna-Campbell-Akademie setzte sich mit den Prinzipien und Bedingungen revolutionärer Organisation auseinander. Um eine erfolgreiche, gesellschaftliche Politik gegen die Strategien imperialistischer Bestrebungen und eines weltweiten Kapitalismus zu machen, müssen wir verstehen, wie die verschiedenen politischen Akteure vorgehen. Erst dann können wir uns aus dem Ohnmachtsgefühl befreien, das uns lähmt. Deswegen widmete sich der Auftakt der Akademie der Analyse der globalen politischen Lage. Die Teilnehmenden debattierten, welche Bedeutung der Krieg im Mittleren Osten für unsere lokale Politik hat und welche Strategie die verschiedenen Staaten verfolgen. Gleichzeitig wurde auch die Entwicklung des globalen Widerstandes benannt und bewertet.
Wohin bewegen sich Deutschland und Europa?
Am zweiten Tag war insbesondere die internationale Rolle und Strategie der deutschen Staatspolitik im Fokus der Diskussion. Wo bewegt sich Deutschland hin? Und wo Europa? „Es ist die Zeit von Organisation und Koordination“, hat Anna Campbell gesagt. Diesem Aufruf folgend behandelten die Vorträge der Referentin die Organisationsgeschichte der kurdischen Bewegung und die Praxis des demokratischen Konföderalismus. In anschließenden Diskussionsrunden wurde überlegt, welche Form eine gesellschaftliche Organisation hier haben müsste und welche Konsequenzen das für die Praxis des Widerstandskomitees hat.
Organisiert gegen die Angriffe der kapitalistischen Moderne
Der Tag endete mit einem gemeinsamen Kulturabend, der mit inspirierende Gedichten, gemeinsamem Singen und Tanzen gefüllt wurde. Neu motiviert wurde zum Abschluss über die weiteren politischen Perspektiven gesprochen und die Bildung reflektiert. Das Widerstandskomitee befindet sich auf einem wichtigen Weg, doch ein langer Abschnitt liegt auch noch vor uns. Die Teilnehmenden einte die Erkenntnis, dass wir uns nur organisiert gegen die Angriffe der kapitalistischen Moderne wehren können. Die Akademie endete mit dem Gefühl, dem Aufruf von Anna Campbell gerecht geworden zu sein.