Weiterhin unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit führt der türkische Staat einen Zermürbungskrieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Täglich kommt es zu schweren Verstößen und Menschenrechtsverletzungen. Die Situation steht der dunklen Phase der 1990er Jahre in Nichts nach. Mit großer Sorge wird derzeit die Lage in Colemêrg (tr. Hakkari) beobachtet. Am 27. Juli kam es dort zu einer Explosion, die einen fahrenden Militärtransporter traf. Der gepanzerte Kleinbus befand sich zur Mittagszeit in Höhe des Dorfes Yekmala Jêri (Aşağı Ölçek) auf der Straße zwischen Gever (Yüksekova) und Şemzînan (Şemdinli). Wie sich später herausstellte, handelte es sich um eine Sabotageaktion der kurdischen Frauenguerilla YJA Star. Dabei wurden mindestens sechs Soldaten getötet und zehn weitere verletzt.
Dennoch ist die türkische Armee seit dem Vorfall in einem Rachefeldzug gegen die ortsansässige Bevölkerung. Inzwischen wurden sieben Zivilisten aus Gever wegen des Vorwurfs der Gefährdung der nationalen Einheit und territorialen Integrität der Türkei im Zusammenhang mit der tödlichen Explosion des Militärfahrzeugs verhaftet. Davut Sarıtaş ist einer von ihnen. Er war am vorletzten Freitag bei der Stürmung des Dorfes Mûşan (Köycük) zusammen mit Abbas Kırmızıtaş festgenommen worden. Die beiden jungen Männer wurden von den Soldaten zunächst schwer misshandelt, bis auf die Unterwäsche entkleidet und anschließend in ein militärisches Operationsgebiet verschleppt – offensichtlich in der Absicht, sie als lebende Schutzschilde vor sich herzutreiben. Mehrere Tage verbrachten sie in Gewahrsam auf der Gendarmerie-Wache, wo sie ebenfalls schweren Misshandlungen ausgesetzt wurden, bestätigten Juristen der Rechtsanwaltskammer Colemêrg. Diyan Sarıtaş, die Mutter von Davut Sarıtaş, hat sich zu den Geschehnissen am Tag der Razzia geäußert.
„Wir werden auch dich umbringen“
Etwa drei Uhr sei es gewesen, als in der Nacht auf den 30. Juli zahlreiche Panzerfahrzeuge in Mûşan einrückten. Die Bewohnerinnen und Bewohner durften ihre Häuser nicht verlassen. „Gegen sieben Uhr kamen die Soldaten vor unser Haus. Über Lautsprecher wurde durchgesagt, dass ‚Davut Sarıtaş mit den drei weiteren Personen im Haus‘ herauskommen soll. Mein Sohn, meine beiden Enkelkinder und ich traten daraufhin gemeinsam vor die Tür. Kaum hatten wir einen Fuß nach draußen gesetzt, richteten mehrere Soldaten ihre Gewehre auf die Bauchgegend von Davut, packten ihn an den Haaren und begannen, auf ihn einzuschlagen. Dann brachten sie ihn in die Scheune neben dem Haus. Sie hörten nicht auf, ihn zu verprügeln. Ich hörte die Schreie meines Sohnes. In dem Moment drängten uns die Soldaten zurück ins Haus. Ich wollte ans Fenster gehen und rausschauen, aber sie erlaubten es nicht. Ich konnte es nicht mehr ertragen und fing an zu schreien. Ich versuchte, in die Scheune zu gelangen, in der mein Sohn war, aber zwei Soldaten versperrten mir den Weg. Sie sagten: Wir werden dich töten, solltest du es versuchen“, erzählt Diyan Sarıtaş.
Gefangene fast nackt ins Operationsgebiet gebracht
Von Blut überströmt sei ihr Sohn gewesen, als er aus dem Stall gebracht wurde, fährt Sarıtaş fort. „Ich fragte die Soldaten, die das Haus durchsuchten, wer ihr Verantwortlicher sei. Ich wollte mit ihm sprechen und ihm meine Sorge mitteilen, aber man ließ mich nicht. Erneut richteten die Soldaten ihre Waffen auf mich und sagten: ‚Wenn du gehst, werden wir dich und deinen Sohn töten.‘ Dann zogen sie meinen Sohn aus der Scheune. Sie hatten Davut und Abbas Kırmızıtaş, der ebenfalls abgeführt worden war, so sehr geschlagen, dass ihre Gesichter, ihre Augen und ihre Köpfe blutüberströmt waren. Man ließ ihnen nichts mehr als ihre Unterwäsche am Leib. Fast nackt wurden die beiden ins Operationsgebiet auf der Alm und im Tal gebracht. Über das Ausmaß der sich dort fortgesetzten Folter und Misshandlungen haben wir keine Informationen. Stunden später steckten sie meinen Sohn wieder in seine Kleidung und brachten ihn bedeckt mit Blut und Dreck wieder ins Dorf.“
„Dieses Unrecht muss aufhören“
Von Mûşan aus wurden Davut Sarıtaş und Kırmızıtaş zur Jandarma-Kommandantur im Zentrum von Gever gebracht. Den Angehörigen und ihrem Rechtsbeistand wurde der Kontakt zu beiden verweigert. „Gott darf dieses Unrecht nicht ungestraft lassen“, sagt Diyan Sarıtaş. „Ich will lediglich Gerechtigkeit.“ Ganz gleich, wie groß eine Schuld auch sei, dürfe es nicht passieren, dass Soldaten vor den Augen von Müttern Folter an ihren Kindern verübten. „Dieses Unrecht muss aufhören. Welches Recht hat die Regierung, meinem Sohn eine Waffe an den Kopf zu halten? Wird Gott diese Ungerechtigkeit akzeptieren? Wann hört die Unterdrückung auf? Mein Sohn ist unschuldig. Wir sind unschuldig.“
Racheakt des Regimes
Da die Guerilla für das Militär kaum greifbar ist, versucht der türkische Staat, die Unterstützung für den kurdischen Freiheitskampf durch Terrorisierung der Zivilbevölkerung zu brechen. Häufig werden an Einzelnen Exempel statuiert. Dass die Verhaftung von Saritaş, Kırmızıtaş und den fünf anderen Zivilisten aus Gever unter Artikel 302, dem schwersten im türkischen Recht existenten Straftatvorwurf, erfolgte, deutet ebenso wie die öffentlich durchgeführte Folter auf ein weiteres solches Exempel hin. In besagtem Paragraphen heißt es: „Wer die territoriale Integrität des Staates vollständig bzw. teilweise unter die Souveränität eines fremden Staats stellt, die Einheit des Staates zerstört, einen Teil des Staatsgebietes abtrennt sowie Taten begeht, die die Unabhängigkeit des Staates schwächen, wird zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.” Bei Verurteilung zu erschwerter lebenslanger Haft sind in der Türkei 39 Jahre zu verbüßen und bei einfacher lebenslanger Haft sind 30 Jahre vor einer bedingten Haftentlassung abzusitzen.