Der Buchautor, ehemalige Parlamentsabgeordnete und Sprecher der 78er-Initiative, Celalettin Can, sitzt wieder im Gefängnis. Am Donnerstagabend trat er im Metris-Gefängnis bei Istanbul seine Haftstrafe wegen Terrorvorwürfen an, wie seine Partnerin, die bekannte Menschenrechtlerin Nimet Tanrıkulu, bestätigte. Zuvor hatten in der Türkei mehrere Agenturen und Zeitungen darüber berichtet.
Celalettin Can war im April 2019 wegen Verbreitung von Propaganda für eine „terroristische“ Organisation von einem Istanbuler Gericht zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dieses Urteil bestätigte der Kassationshof als oberstes Berufungsgericht der Türkei im August weitgehend, es sei „im Wesentlichen rechtskräftig“. Hintergrund der Verurteilung des 67-Jährigen ist seine Teilnahme an der Solidaritätskampagne „Bereitschaftsjournalismus“.
In ihrem Einsatz für die Pressefreiheit in der Türkei übernahmen Handelnde aus der Zivilgesellschaft 2016 für jeweils einen Tag symbolisch den Posten der Chefredakteurin bzw. des Chefredakteurs der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem, die noch im selben Jahr per staatlichem Notstandsdekret verboten wurde. Das Blatt war eines der wenigen in der Türkei, die ausführlich über die Folgen des Krieges der AKP-geführten Regierung in den kurdischen Siedlungsgebieten berichtete.
Celalettin Can hatte damals ebenfalls für 24 Stunden die Redaktion von Özgür Gündem leiten sollen. Da er aber beruflich verhindert war, hatte er der in Istanbul angesiedelten Redaktion von Amed (tr. Diyarbakir) aus lediglich eine Solidaritätsbotschaft geschickt. Die türkische Justiz befand im späteren Prozess dennoch, dass er damit wie seine sechs Mitangeklagten zum Ziel gehabt hätte, „Gewalt durch die PKK zu legitimieren und/oder deren gewalttätige Handlungen und Methoden zu fördern“. Seine Verteidigung sprach dagegen von einer fingierten Anklageschrift und willkürlicher juristischer Schikane gegen Grundrechte und die Pressefreiheit.
Bevor sich Can am Donnerstag im Istanbuler Justizpalast Çağlayan den türkischen Behörden stellte, beteiligte er sich noch an einer Mahnwache in Solidarität mit den Gezi-Gefangenen. Gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) äußerte er am Rande der Aktion zu seinem bevorstehenden Haftantritt: „Die Regierung hat nach ihrem Wahlsieg im Mai eine reaktionäre Gegenoffensive gegen die Gesellschaft eingeleitet. Man will durch Verhaftungen und andere Instrumente der Repression ein Klima der Angst schaffen. Statt sich der Ver- und Aussöhnung der Gesellschaft und der Überwindung der Spaltung im Zuge des Wahlgeschehens zuzuwenden, versucht die politische Führung die Menschen in die Knie zu zwingen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der niemand seine Meinung frei äußert. Am meisten bedroht sind derzeit Journalistinnen und Journalisten, aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Samstagsmütter. Die Eskalationsspirale dreht sich immer schneller. Sie muss durchbrochen werden.“
20 Jahre im Gefängnis, auch unter Bedingungen der Junta
Celalettin Can stammt aus der nordkurdischen Provinz Dersim und war bis Anfang der 80er Jahre Vorsitzender der Istanbuler Sektion der Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei (türkisch: Türkiye Devrimci Gençlik Dernekleri Federasyonu, Dev-Genç). Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 saß er neunzehn Jahre und neun Monate im Gefängnis, sechs davon in einer Einzelzelle, und wurde schwer gefoltert.
Zwei Jahre nach seiner Haftentlassung gründete Can im Jahr 2001 mit der politischen Linken die Initiative der 78er. Unter diesem Namen versammeln sich kurdische und türkische Intellektuelle, Journalist:innen und Schriftsteller:innen, die sich zur politischen Generation der „78er“ zählen. Diese Generation wurde fast vollständig vom türkischen Militärregime, das sich 1980 mit Unterstützung der NATO an die Macht putschte, ausgelöscht. Die Initiative verfolgt eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Militärdiktatur und die Rehabilitation aller damals Verfolgten.
Ob Celalettin Can seine Haftstrafe vollständig absitzen muss oder offener Vollzug in Frage kommt, steh derzeit noch nicht fest. Im nächsten Schritt wird er in den berüchtigten Strafvollzugskomplex im westlich von Istanbul gelegenen Silivri überstellt. Das 2008 eröffnete Internierungslager für Oppositionelle gilt als größtes Gefängnis in Europa und ist berüchtigt für Übergriffe, Schikanen und Gewalt.
Bereitschaftsjournalismus bei Özgür Gündem
Die Solidaritätskampagne „Bereitschaftsjournalismus“ war am 3. Mai 2016 ins Leben gerufen worden und dauerte bis zum 7. August desselben Jahres an. Insgesamt 56 Journalistinnen und Journalisten, Intellektuelle und Kunstschaffende beteiligten sich daran. Gegen 49 von ihnen wurden Ermittlungen eingeleitet, elf Verfahren (gegen İhsan Eliaçık, Melda Onur, Sebahat Tuncel, Ahmet Abakay, Eşber Yağmurdereli, Hasip Kaplan, Işın Eliçin, Kemal Can, Mustafa Sönmez, Uğur Karadaş, Nurcan Baysal) sind eingestellt worden. Gegen 38 Kampagnenteilnehmende wurde auf Grundlage des sogenannten Terrorbekämpfungsgesetzes Nr. 3713 Anklage erhoben, 34 erstinstanzliche Urteile liegen bislang vor. In zahlreichen Fällen wurden die Strafen von Berufungsgerichten bestätigt, einige der Verurteilten haben ihre Haft bereits abgesessen.