Mit einer Beschwerde beim Menschenrechtsausschuss des irakischen Parlaments will eine Initiative von Angehörigen der Opfer des sogenannten Hewlêr-Massakers eine Untersuchung der Geschehnisse vor 26 Jahren erwirken. Von den Behörden in Südkurdistan (Kurdistan-Region Irak, KRI) könnten die Hinterbliebenen keine Hilfe erwarten, sagt Muhammed Xerîb, ein Mitglied der Initiative. Ob beim Regionalparlament und zuständigen Kommissionen, dem KRI-Präsidenten oder weiteren staatlichen Institutionen – Anträge der Hinterbliebenen, mehr über die Todesumstände ihrer Angehörigen und ihre genauen Grabstätten zu erfahren, die Opfer zu rehabilitieren und die Ermittlungsergebnisse zu veröffentlichen, lehnen die kurdischen Behörden seit Jahren brüsk ab. Alle Hoffnungen liegen deshalb auf Bagdad.
„Wir wollen, dass das irakische Parlament einen Untersuchungsausschuss einsetzt“, betont Xerîb. „Seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten werden wir wegen der verweigerten Aufklärung des Verbrechens über das Schicksal unserer ermordeten Angehörigen im Unklaren gelassen. Viele von uns wissen nicht einmal, wo genau ihre Familienmitglieder verscharrt worden sind.“ Die Behörden in der KRI verweigerten auch die Umbettung der Toten und verhinderten somit eine würdevolle Bestattung. Dies sei menschenverachtend und inakzeptabel. Der Ausschuss soll auch die extralegalen Hinrichtungen von fünf Guerillakämpfer:innen durch PDK-Kräfte in Xelîfan untersuchen. Im August 2021 war eine siebenköpfige HPG/YJA-Star-Einheit in dem Ort nahe Hewlêr in einen Hinterhalt einer Spezialtruppe der PDK geraten. Fünf ihrer Mitglieder wurden ermordet, ein Kämpfer geriet in Gefangenschaft. Haki Zîlan überlebte.
Das Hewlêr-Massaker
In der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1997 marschierte die türkische Armee mit etwa 200.000 Soldaten und mehreren tausend „Dorfschützern“ in Südkurdistan ein – zur „Operation Hammer“ (tr. „Çekiç Operasyonu“) gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Es handelt sich bis heute um die größte „grenzüberschreitende Operation“ in der Geschichte der Türkei. Zum damaligen Zeitpunkt war es der 19. Überfall des türkischen Militärs auf südkurdisches Territorium seit Gründung der Republik.
Bereits im Vorfeld des Einmarsches wurden die Grenzgebiete zum Irak und Iran flächendeckend bombardiert, wobei zahlreiche Dörfer in den Regionen um Heftanîn, Gare und anderen Gebieten im Dreiländereck Türkei-Irak-Iran zerstört wurden, sodass tausende Bewohner:innen flüchten mussten. Zu der Zeit fanden in Südkurdistan schwere Auseinandersetzungen zwischen der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) statt.
Vor Beginn des Einmarschs der türkischen Truppen ließen sowohl die YNK als auch die PDK über ihre Medienorgane mitteilen, dass sie sich bei den Operationen gegen die PKK nicht auf die Seite des türkischen Staates stellen und sich aus den Kämpfen heraushalten würden. Man wollte nach den Erfahrungen des Bruderkriegs („Birakûjî“) nie wieder die Waffen gegen eine andere kurdische Organisation erheben, hieß es. Doch die PDK hielt ihr Wort nicht und beteiligte sich aktiv an der sogenannten „Hammer-Operation“ der türkischen Armee.
Friedhof am Rande des Flughafens von Hewlêr
Die Teilnahme der Barzanî-Partei beschränkte sich nicht nur auf Gefechte im Rückzugsgebiet der Guerilla, sondern griff auf die Städte in Südkurdistan über. So wurden am zweiten Tag der Invasion, dem 16. Mai 1997, in Hewlêr (Erbil) ein Krankenhaus der kurdischen Rothalbmondorganisation Heyva Sor a Kurdistanê, das den Namen „Stiftung für das Leben und den Aufbau Kurdistans“ (ku. Dezgay Jiyan û Awedan, DJAK) trug und Verletzte der PKK versorgte, und andere Einrichtungen PKK-naher Organisationen wie beispielsweise das Parteibüro der YNDK (Nationaldemokratische Einheit Kurdistans), der Sitz von YAJK (Verband freier Frauen Kurdistans), die Vertretung des Mesopotamischen Kulturzentrums NÇM, Büroräume der Zeitungen „Welat“ (Heimat) und „Welatê Roj“ (Heimat der Sonne) von schwerbewaffneten PDK-Milizionären überfallen. Alleine im Krankenhaus ermordete die PDK 62 kriegsverwundete und kranke Guerillakämpfer:innen der PKK. Insgesamt kamen bei dem Massaker von Hewlêr 83 PKK-Mitglieder ums Leben. Unter ihnen waren auch Journalist:innen und Frauenrechtaktivistinnen.
Leichen am Rande des Flughafens verscharrt
Die Ereignisse in Hewlêr im Mai 1997 gingen als „schwarzer Tag” in die Geschichte der kurdischen Gesellschaft ein. Die PDK verscharrte die Toten in einem Graben außerhalb des Flughafengeländes von Hewlêr, direkt an einem Straßenrand. Erst Jahre später errichteten Angehörige einen Friedhof. Das Lied „Hewlêr“ von Hozan Serhat - einer der populärsten Künstler der kurdischen Guerillamusik und später selbst Gefallener der kurdischen Befreiungsbewegung - ist den Opfern des Massakers vom 16. Mai 1997 gewidmet.