Ein neuer Prozess gegen die renommierte Forensikerin und Menschenrechtlerin Şebnem Korur Fincancı vor der Strafkammer des Landgerichts Istanbul hat am Montag zunächst ohne die Angeklagte begonnen. Die 65-Jährige und ihre Verteidigerin Meriç Eyüboğlu waren eigenen Angaben nach verhindert. Doch weil eine entsprechende Mitteilung das Gericht nicht erreicht habe, ordnete die Kammer die Zwangsvorführung Fincancıs an. Das Verfahren soll nun am 27. Januar 2025 beginnen.
Angeklagt ist Fincancı wegen des Verdachts der „Herabsetzung der türkischen Nation“ nach dem sogenannten Türkentum-Paragrafen. Hintergrund der Anschuldigung ist ein von ihr geäußerter Folterverdacht im Fall eines aus Kirgisistan entführten Mannes. Der türkisch-kirgisische Doppelstaatler Orhan Inandi wurde im Mai 2021 auf Anordnung Recep Tayyip Erdoğans vom türkischen Geheimdienst MIT in Bischkek entführt und in die Türkei gebracht. Das Motiv für die Entführung: Inandi war Gründer und Präsident des Bildungsnetzwerks Sapat, das dem im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet wird. Der einstige Weggefährte Erdoğans wird für den vermeintlichen Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht, Anhänger seiner Bewegung weltweit verfolgt.
Nach der Entführung präsentierte Erdoğan ein Foto von Inandi, das ihn gefesselt vor einer weißen Wand zeigt, flankiert von zwei großen türkischen Fahnen. Rund sechs Monate nach Inandis Verschleppung in die Türkei tauchten weitere Bilder auf, die in einem Gefängnishof entstanden sind und ihn mit einem verbundenen Arm zeigen. Seinen Angehörigen zufolge kann er den Arm aufgrund erlebter Gewalt und Folter durch Beamte des MIT und der türkischen Polizei nicht mehr benutzen.
Gefragt nach ihrer Fachmeinung als Professorin für Rechtsmedizin und international führende Expertin zur Folterdokumentation, äußerte Fincancı gegenüber Medien, es sei durchaus denkbar, dass die Verletzungen Inandis auf schwere Folter zurückzuführen sind. Die Oberstaatsanwaltschaft Istanbul dagegen sieht in dieser Expertise eine „gezielte Demütigung der Türken“ und stellte beim Justizministerium einen Antrag für die Absegnung einer Anklage gegen Fincancı nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches. Anklagen nach diesem Paragrafen sind von der Autorisierung des Justizministers abhängig. Das Ressort kam dem Antrag, in dem es salopp hieß, in der Türkei gebe es keine Folter, umgehend nach. Schon länger bemüht sich Ankara, die als unbequeme Kritikerin des Regimes geltende Fincancı mundtot machen.
Bei Artikel 301 handelt sich vermutlich um das bekannteste türkische Gesetz in Europa. Bis 2008 regelte der Paragraf noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. In der überholten Fassung heißt es mittlerweile: „Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.“ Der Artikel gilt als äußerst wirksames Instrument gegen die Opposition. Oppositionelle wie unliebsame Intellektuelle werden in der Türkei immer wieder wegen der vermeintlichen Herabsetzung des Türkentums vor Gericht gezerrt, um Meinungsfreiheit und Grundrechte einzuschränken.
Wegen Terrorpropaganda verurteilt
Şebnem Korur Fincancı steht nicht zum ersten Mal vor Gericht. Zuletzt war die frühere Präsidentin der türkischen Ärztekammer (TTB) im Januar 2023 wegen des Vorwurfs der „Terrorpropaganda“ zu zwei Jahren und rund achteinhalb Monaten Haft verurteilt worden. Fincancı hatte sich in einem Fernsehinterview mit dem kurdischen Sender Medya Haber für eine unabhängige Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen gegen die kurdische Guerilla durch die türkische Armee ausgesprochen. Eine Berufung gegen das Urteil ist beim Kassationshof weiter anhängig.