Als die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) 2014 das ezidische Siedlungsgebiet Şengal in Südkurdistan/Nordirak angriff, wurden Tausende Menschen getötet. Tausende Frauen wurden verschleppt und versklavt, mehr als eine halbe Million Menschen wurde vertrieben. Berichten zufolge sind 2.213 Ezidinnen und Eziden ermordet worden. Das Schicksal von rund 3.000 Frauen und Kindern ist noch immer unbekannt.
Die erste bewaffnete Einheit, die Şengal verteidigte, war eine kleine Guerillagruppe der Volksverteidigungskräfte (HPG). Später kamen weitere HPG-Einheiten und auch Kämpferinnen und Kämpfer der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) aus Rojava in das Gebiet, und die Einheimischen gründeten ihre eigenen Selbstverteidigungseinheiten, die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und die Fraueneinheiten YJS. Şengal wurde in einem langem Kampf schließlich vom IS befreit. Seit dem 25. April 2017 wird die Region jedoch erneut von der Türkei angegriffen.
Die Angriffe verstärkten sich, nachdem die irakische Regierung und die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) am 9. Oktober 2020 ein Abkommen über die Zukunft von Şengal unterzeichnet hatten. Dem Abkommen zufolge sollten mehr als 8.000 Soldaten in Şengal stationiert werden, und die von den Einwohner:innen eingerichteten Sicherheitskräfte (Asayîş) sollten aufgelöst werden. Dieser ohne ihre Zustimmung beschlossene Plan löste bei den Menschen in der Region Empörung aus und führte zu monatelangen Protesten.
Im Juli 2021 haben sowohl das niederländische als auch das belgische Parlament die von IS am 3. August 2014 verübten Angriffe auf die ezidische Bevölkerung und die darauf folgenden Massaker als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt.
Im August 2021 hat die Türkei jedoch mehrfach Şengal angegriffen. Am 17. August wurde sogar ein Krankenhaus in der Nähe des Dorfes Sikêniyê bombardiert, acht Menschen kamen dabei ums Leben und weitere wurden verletzt. Dieser Angriff folgte auf einen tödlichen Drohnenangriff auf den YBŞ-Kommandanten Seîd Hesen und seinen Neffen Îsa Xwedêda am Vortag, dem 16. August. Am 2. September fand ein weiterer Drohnenangriff auf einen Kontrollpunkt der Asayîş statt.
Ezidinnen und Eziden machen auf die widersprüchliche Haltung der Staaten der Welt gegenüber dem, was ihr Volk durchmacht, aufmerksam. Einerseits verurteilt die ganze Welt die Angriffe des IS auf das ezidische Volk, andererseits wird zu den Angriffen der Türkei geschwiegen, erklärten in Nordsyrien lebende Ezid:innen gegenüber ANF.
Suad Hiso, die Sprecherin des ezidischen Frauenverbands von Rojava, sagt, dass mit den fortgesetzten Angriffen die Autonomie der Ezid:innen zerstört werden soll: „Dem IS ist es 2014 nicht gelungen, das ezidische Volk zu vernichten. Şengal ist immer noch ezidisches Siedlungsgebiet. Die Türkei will den Völkermord des IS aktualisieren und vollenden.“
Der türkische Staat setze dabei auf die Strategie, führende Persönlichkeiten auszuschalten. Das gelte nicht nur für Şengal, auch in anderen Regionen werde ein Völkermord begangen: „Vor der Besatzung von Efrîn haben ungefähr 25.000 Ezidinnen und Eziden in der Region gelebt. Jetzt sind es nur noch 2000. Die Besatzer verschleppen und töten die Menschen. In ezidischen Dörfern sind Siedlungen für die Dschihadisten errichtet worden, es wurden Moscheen gebaut und Religionsschulen eröffnet. Genau wie beim IS werden die Ezidinnen in Efrîn dazu gezwungen, sich in Hidschabs zu hüllen. Es gibt Zwangskonvertierungen, ezidische Kinder müssen Korankurse besuchen. Als Efrîn besetzt wurde, mussten wir unsere Heimat verlassen. Jetzt leben wir unter schwierigen Bedingungen in Zelten in Şehba. Diese Region wird fast täglich bombardiert. In unseren Häusern sind Dschihadisten und ihre Angehörigen untergebracht worden. Am 30. August ist zwischen den ezidischen Dörfern Qimar und Tirinde in Efrîn eine Fertighaussiedlung mit 350 Unterkünften für die Dschihadisten eröffnet worden. In der Siedlung gibt eine Moschee und Korankurse. Die demografische Struktur und die Kultur von Efrîn werden gewaltsam verändert. Als ezidische Gemeinschaft tolerieren wir alle Religionen, aber alle Menschen sollten ihren Glauben auf ihrem eigenen Boden ausleben können.“
Weiter erklärt Suad Hiso: „Wir haben 74 Ferman erlebt, aber unseren Glauben und unsere Heimat niemals aufgegeben. Das werden wir auch künftig nicht tun. Die Eziden wollen auf ihrem eigenen Land selbstbestimmt und frei mit ihrem eigenen Glauben leben. Die Türkei will jedoch genauso wie Efrîn auch Şengal besetzen und die Bevölkerungsstruktur verändern. Die Menschen sollen aus Şengal vertrieben werden und sich auf den Weg nach Europa machen.“
Hisên Hesen, Ko-Vorsitzender der ezidischen Union von Efrîn, ruft die internationale Gemeinschaft auf, sich gegen die türkischen Angriffe zu stellen. „Der Willen der Ezidinnen und Eziden wird weder von der Türkei noch von der PDK respektiert. Sie versuchen, diesen Willen zu brechen. Die internationalen Mächte haben diese Angriffe stillschweigend gebilligt. Das ist eine Schande für die Menschheit. Ein unterdrücktes Volk lebt unter der Drohung, ermordet und von seinem Land vertrieben zu werden. Als Antwort darauf rufen wir, die Eziden von Efrîn, die Eziden in ganz Kurdistan und in der ganzen Welt auf: Lasst uns für Şengal und unser Volk eintreten."
Faruq Tozo ist Ko-Vorsitzender des Ezidischen Zentrums in der Region Cizîrê und erklärt zu den Angriffen: „Es gibt weltweit nur sehr wenige Beispiele für Angriffe auf ein Krankenhaus. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die menschliche Ethik im 21. Jahrhundert und die Kriegsgesetze inakzeptabel. Doch kein Staat der Welt und keine internationale Institution spricht sich gegen die Verbrechen des türkischen Staates aus. Sie stellen sich den Massakern nicht in den Weg. Eziden, die den IS-Völkermord überlebt haben, werden von türkischen Flugzeugen massakriert. Ich frage die Staaten der Welt: Was bedeutet Völkermord für Sie? Wird ein Genozid nur anerkannt, wenn der IS ihn begeht? Warum wollen Sie nicht sehen, was der türkische IS tut?"