„Stoppt nicht uns, stoppt die Dschihadisten!“
In Pirsûs an der türkisch-syrischen Grenze haben Aktivist:innen gegen den von der Türkei unterstützten islamistischen Feldzug in Syrien protestiert und an den Kampf um Kobanê vor zehn Jahren erinnert.
In Pirsûs an der türkisch-syrischen Grenze haben Aktivist:innen gegen den von der Türkei unterstützten islamistischen Feldzug in Syrien protestiert und an den Kampf um Kobanê vor zehn Jahren erinnert.
Die Bewegung freier Frauen (TJA) und die Parteien DEM und DBP haben in Pirsûs (tr. Suruç) gegen die Besatzungsangriffe auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien protestiert. An der Protestaktion nahe der türkisch-syrischen Grenze in Sichtweite zu Kobanê nahmen viele Menschen teil, darunter mehrere Parlamentsabgeordnete und die Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları.
Die Militärpolizei versuchte mehrfach, den Protestmarsch zur Grenze aufzuhalten. Aktivistinnen der TJA reagierten mit dem Ruf „Stoppt nicht uns, stoppt die Dschihadisten!“. Die Demonstration fand trotz der Blockade statt, die Teilnehmenden skandierten „Rojava ist überall, überall ist Widerstand“ und „Bijî berxwedana Rojava”.
„Wir haben diesen Film schon einmal gesehen“
Die DEM-Vorsitzende Tülay Hatimoğulları erinnerte in einer Rede an den Widerstand von 2014 gegen den IS in Kobanê und sagte, die aktuellen Bilder aus Syrien seien wie eine Wiederholung des damaligen Geschehens: „Wir haben diesen Film schon einmal gesehen: Nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 wurden der IS und die von ihm abgeleiteten Organisationen, die quasi von ausländischen Mächten hergestellt wurden, auf das syrische Gebiet losgelassen. Organisationen, die aus dem IS hervorgegangen sind, haben nun ihren Namen geändert und heißen jetzt HTS oder Syrische Nationalarmee. Sie alle werden aus der gleichen Quelle gespeist, von der gleichen Macht.“
„Werte des Islams für politische Ambitionen missbraucht“
Weiter erklärte Tülay Hatimoğulları: „Wir haben gesagt, dass die Türkei eine Politik des Friedens, der Diplomatie und des Dialogs betreiben sollte. Wir haben gesagt, dass die Sicherheit unserer 911 Kilometer langen Grenze zu Syrien durch Frieden hergestellt werden kann. Wir haben gesagt, dass wenn ihr diesen Banden vertraut, die die Werte des Islams zu Werkzeugen für ihre politischen Ambitionen machen, sie auch euch treffen werden. Die Massaker, die der IS sowohl in der Türkei als auch in europäischen Ländern verübt hat, sind ja offensichtlich.“
Gefahr für die Türkei und den Nahen Osten
Die Ko-Vorsitzende der DEM-Partei warnte vor der Gefahr des islamistischen Feldzugs in Syrien und warf der türkischen Regierung eine aktive Beteiligung vor: „Die Menschen in der Türkei werden von diesem Prozess nicht profitieren, die Türkei und die Menschen in der Region werden nicht profitieren. Das Wichtigste, was an einem Ort, an dem ein solches Chaos herrscht, geschehen sollte, ist die Verwirklichung eines türkisch-kurdisch-arabischen Friedens. Darauf sollte die Türkei hinarbeiten. Aber sie tut das Gegenteil. Die von den Herrschenden gezogenen Grenzen können keine Grenzen zwischen den Völkern sein. Diese Region ist durch die Gefühle, Gedanken und kulturellen Werte der Völker vereint. Aus diesem Grund sagen wir noch einmal, dass wir unseren Kampf für einen würdevollen Frieden definitiv fortsetzen werden. Die Völker des Nahen Ostens sind Geschwister, niemand soll versuchen, einen Keil zwischen sie zu treiben.“
Hintergrund: Dschihadistischer Vormarsch in Syrien
Die Terrororganisation Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat vor einer Woche Aleppo überrannt und weite Teile der nordsyrischen Großstadt besetzt. Lediglich Şêxmeqsûd (Scheich Maksud) und Eşrefiyê (Ashrafia) konnten nicht von den Dschihadisten besetzt werden. Entgegen der Armee von Präsident Baschar al-Assad, die sich fluchtartig aus Aleppo zurückgezogen hatte, leisten die an die Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) angebundenen kurdischen Stadtviertel heftige Gegenwehr.
Etwa zeitgleich zur Aleppo-Offensive von HTS belagerte die von der Türkei gesteuerte Dschihadistenallianz „Syrische Nationalarmee“ (SNA) die weiter nördlich von Aleppo gelegene Stadt Tel Rifat (Tall Rifaat), die als Hauptstadt des Kantons Efrîn-Şehba galt. Um ein Massaker an der dortigen Bevölkerung abzuwenden, fasste der Volksrat notgedrungen den Entschluss, sich aus der Region zurückzuziehen. Rund 200.000 Menschen werden nun in andere Gebiete der AANES evakuiert. Auch die Bevölkerung aus nahegelegenen Orten außerhalb der Autonomiezone, darunter die schiitischen Städte Nubl und Zahra, sollen über einen von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) errichteten Fluchtkorridor evakuiert werden.
Als Rebellen verharmloste Kriegsverbrecher
Das Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ging aus dem syrischen Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front hervor und wird von den Vereinten Nationen (UN), den USA und der EU als Terrororganisation gelistet. Dennoch wird die Truppe in westlichen Medien oftmals als „Rebellengruppe“ verharmlost und die Provinz Idlib als „letzte Bastion der bewaffneten Opposition“ beschönigt. Auch die von der Türkei aufgebaute, ausgerüstete und finanzierte SNA wird vom Westen mit dem Label „Aufständische“ versehen, obwohl diverse unter dem Dach der Islamistenallianz aktive Dschihadistenmilizen, darunter Ahrar al-Sharqiya und Sultan-Murad-Brigade, von den UN als Kriegsverbrecher benannt werden und mit Sanktionen der USA belegt wurden.