Salih Muslim: Für die Türkei sieht es nicht gut aus

Die türkische Regierung kann von ihrem politischen und wirtschaftlichen Bankrott am ehesten mit Krieg ablenken. Der PYD-Politiker Salih Muslim bezeichnet die angedrohte Invasion in Nordsyrien als letzte Zuckungen einer zerfallenden Kriegskoalition.

Salih Muslim, Vorstandsmitglied der PYD, hat sich im ANF-Interview zu einer drohenden türkischen Invasion in Nordsyrien geäußert.

Während die ganze Welt über mögliche Wege zu einer bleibenden Stabilität in Syrien diskutiert, droht der türkische Staat mal wieder mit einer Invasion. Wie beurteilen Sie die türkische Herangehensweise an eine Lösung für Syrien?

Die Verlautbarungen des faschistischen Regimes in der Türkei sind das genaue Gegenteil von dem, was weltweit vorgesehen ist. Wir sagen das seit Beginn an, seit acht Jahren: Die Türkei will keinen Frieden in Syrien. Sie ist ein ständiges Hindernis und denkt nur an sich selbst. Die ganze Welt weiß heute, wie viele Terroristen von der Türkei losgeschickt wurden. Delegationen der hiesigen Selbstverwaltung haben Gespräche in Moskau und Washington geführt. Diese Gespräche sind positiv verlaufen. Die Antworten auf gestellte Fragen waren sehr optimistisch. Alle haben Zusagen für eine Lösung in Syrien gemacht, für die Stabilität und die territoriale Gesamtheit des Landes.

Die Türkei sieht Stabilität in Syrien nicht als Vorteil. Es heißt auch von allen Seiten, dass vor allem die Türkei und andere ausländische Kräfte sich aus Syrien zurückziehen sollen. Die Türkei muss ihre Truppen abziehen. Sie hat ohnehin nichts gewonnen, ihre Pläne sind ins Wasser gefallen. Besonders Idlib ist ein katastrophales Dilemma für die Türkei. Aufgrund der Zusagen, die sie Putin gemacht hat, muss sie die dortigen Terroristen bekämpfen und beseitigen. Ansonsten droht ihr ein weiterer Krieg. Um sich aus dieser Situation zu befreien, droht sie unentwegt mit einem Einmarsch. Angesichts der internationalen Bemühungen um eine politische Lösung in Syrien wird das nicht zu ihrem Vorteil sein.

Besteht ein Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise in der Türkei?

Es sieht so aus, als hätten die Probleme des türkischen Staates inzwischen alle Grenzen überschritten. Auch innenpolitisch hat der Staat Bankrott gemacht. Die Wirtschaft ist aufgrund des seit 2015 geführten Krieges am Nullpunkt angelangt. Es ist nichts mehr übrig, der Bevölkerung geht es schlecht. Die Inflation artet aus und die Währung verliert täglich an Wert. Das alles bedeutet, dass die Türkei ökonomisch bankrott ist. Um aus dieser Situation herauszukommen und sich aus dem wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Bankrott zu befreien, muss die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in der Türkei unbedingt in eine andere Richtung gelenkt werden.

Das geht am ehesten über Krieg. Die Allianz zwischen AKP, MHP, Ergenekon und anderen Banden ist ohnehin eine Kriegskoalition. Das bedeutet, dass es jeden Tag Krieg und neue Konflikte geben muss. Davon lebt diese Koalition. Wenn der Krieg aufhört, wird sie zerfallen. Die aktuellen Drohungen verfolgen den Zweck, diese Koalition aufrecht zu erhalten und die eigene Öffentlichkeit zu manipulieren.

Welche Auswirkungen hätte eine weitere Besatzungsoperation Ihrer Meinung nach auf die Türkei?

Im Moment sieht es so aus, als ob die gesamte politische Konjunktur nicht vorteilhaft für diese Koalition ist. Sollte sie wirklich einen solchen Versuch wagen, könnten es ihre letzten Zuckungen sein. Es könnte den Zusammenbruch für die Türkei bedeuten. Der Faschismus würde aufgrund dieses Krieges, des wirtschaftlichen Bankrotts und der falschen Politik zusammenbrechen. Es geht ja auch nicht nur um Syrien, der türkische Staat brüstet sich auch mit Interventionen in Libyen, im Mittelmeer und anderswo. Diese Politik war falsch und daher sieht es nicht gut aus für die nahe Zukunft der Türkei. Irgendetwas wird passieren.

Als Begründung für eine Invasion werden ein weiteres Mal die Grenzsicherheit und angebliche Angriffe auf die Türkei herangezogen. Das ruft Erinnerungen an die Aussage des MIT-Verantwortlichen Hakan Fidan wach, der in einer öffentlich gewordenen Tonaufnahme von 2014 davon spricht, dass ein Kriegsgrund jederzeit erschaffen werden kann, indem von syrischer Seite aus Raketen auf die Türkei abgefeuert werden. Kann einer Intervention in Syrien auf internationaler Ebene erneut mit einem solchen Vorwand legitimiert werden?

Hakan Fidan hatte damals davon gesprochen, dass er Leute losschicken kann, die von syrischem Boden aus Granaten auf die Türkei abfeuern, um einen Vorwand zu schaffen. Inzwischen muss er niemanden mehr losschicken, weil seine Söldner sowieso auf dieser Seite der Grenze sind. Sie können jederzeit Granaten abfeuern. Insofern ist es sehr einfach, einen Vorwand zu erschaffen.

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben sich ja bereits dazu geäußert. Sie haben sich entsprechend der getroffenen Vereinbarung dreißig Kilometer von der Grenze zurückgezogen und ohnehin kein Interesse an einem derartigen Angriff, weil ihre Angelegenheit sich hier abspielt und nicht auf der anderen Seite der Grenze. Für sie gibt es keinen Grund, Granaten abzufeuern. Sie haben die Anschuldigung eindeutig zurückgewiesen.

Die Menschen, deren Dörfer und Städte besetzt worden sind, haben das weltweit anerkannte Recht auf Selbstverteidigung. Zehntausende vertriebene Menschen harren in Lagern aus. Im Camp Waşokanî beispielsweise stehen sie morgens auf und blicken in Richtung Serêkaniyê. Sie fragen sich ständig, wann sie zurückkehren können. Sie haben Verwandte dort und sie haben das Recht auf Widerstand. Dem kann niemand widersprechen.

In Azaz sind zwei Angehörige einer türkischen Polizeisondereinheit getötet worden. Was können Sie dazu sagen?

Sie sind auf syrischem Territorium getötet worden und man weiß nicht, wer dahinter steht. Es gibt viele Kräfte hier, unter anderem die QSD, die Befreiungskräfte Efrîns (HRE), Russland, Iran, syrische Truppen. Irgendwer hat eine Granate abgefeuert und zwei türkische Militärs sind ums Leben gekommen. Das ist legitim, denn was haben diese Militärs dort auf ausländischem Territorium zu suchen? Sie sollen abgezogen werden, dann würde es allen Seiten besser gehen.

Syrien hat das Recht auf Souveränität. Wenn syrische Kräfte hinter diesem Vorfall stehen, dann haben sie diese Souveränität verteidigt. Wenn es die YPG gewesen sein sollten, dann haben sie ihre Dörfer und ihr Volk verteidigt. Die Bevölkerung leistet weiter Widerstand gegen die Besatzung. Vor allem in Efrîn finden jeden Tag Aktionen gegen die Besatzungsmacht statt. Das ist ein legitimes Recht, dem nicht widersprochen werden kann. Wenn man ein anderes Land besetzt, muss man mit Konsequenzen rechnen. Inzwischen sind die türkischen Machenschaften ohnehin allgemein bekannt. Alle wissen, was die Türkei tut und welche Politik sie verfolgt. Vorwände wie die von Hakan Fidan sind mittlerweile veraltet und nicht mehr überzeugend.

Was wird die Bevölkerung gegen die Drohungen oder eine mögliche Invasion tun?

Was können wir tun? Wir werden unserer Tradition entsprechend weiter Widerstand leisten. Wir haben in Kobanê Widerstand geleistet und gewonnen. In Efrîn haben wir zwei Monate gegen die NATO-Waffen der Türkei widerstanden. Diesen Widerstand setzen wir fort. Wir haben Tausende Gefallene gegeben. Hunderte Menschen aus der Zivilbevölkerung sind getötet worden. Trotzdem haben wir nicht kapituliert. So wie in Serêkaniyê und anderen Orten werden wir auch heute wieder überall im Widerstand sein.

Die Türkei befindet sich in einer schwierigen Lage. Wenn sie trotzdem etwas versuchen sollte, können wir uns nur verteidigen. Als verschiedene Bevölkerungsgruppen der Region, ob kurdisch, christlich, turkmenisch, arabisch, werden wir uns verteidigen. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.