Nisêbîn: „Der Klang brechender Knochen liegt uns noch in den Ohren“

1992 verübte der türkische Staat nach dem Newroz-Fest in Nisêbîn ein Massaker. Augenzeug:innen erinnern sich daran, wie die Menschen von Panzern überfahren und massakriert wurden.

Die Geschichte Kurdistans ist voll von Widerstand und Massakern. Sprichwörtlich an jedem Stein in Kurdistan klebt Blut. Insbesondere die jüngere Geschichte ist voll von Massakern, die niemals vergessen werden dürfen. Eines dieser Massaker ist das Newroz-Massaker von Nisêbîn (tr. Nusaybin) im Jahr 1992.

Newroz-Massaker in Cizîr und Şirnex

Am 21. März 1992 hatten sich Tausende auf das Widerstandsfest Newroz in Şirnex (Şırnak) und Cizîr (Cizre) vorbereitet. In der nordkurdischen Stadt Nisêbîn hatten sich sogar Zehntausende zum immer wieder verbotenen kurdischen Neujahrsfest versammelt. Das Newroz-Fest in Nisêbîn verlief zwar ohne besondere Vorkommnisse, aber in Şirnex und Cizîr wurden Hunderte ermordet und verletzt. Als die Nachricht von den Massakern in Şirnex und Cizîr in Nisêbîn bekannt wurde, dankten der damalige Ministerpräsident Demirel und sein Innenminister Ismet Sezgin vor laufenden Kameras den Menschen aus Nisêbîn, dass es dort keine Aufstände gegeben habe.


Panzer fahren in Sitzstreik

Die Menschen in der Stadt waren wütend, als sie von dem Massaker hörten, und die Erklärung von Demirel und Sezgin stellte eine Provokation dar, welche die Menschen auf die Straße brachten. Am folgenden Tag, den 22. März 1992, versammelten sich Tausende an der unter dem Namen „Pira Şehîdan“ bekannten Brücke. Mit einem Sitzstreik protestierten die Menschen gegen das Massaker. Die Polizei eröffnete das Feuer und fuhr mit Panzern in die Menschenmenge. Dabei wurden nach offiziellen Angaben 16, nach Angaben von Augenzeug:innen 21 Menschen getötet und über hundert zum Teil schwer verletzt. Die Leichen von zwei Getöteten stürzten in die Schlucht und trieben dort im Fluss bis Qamişlo. Auf das Massaker folgten Auseinandersetzungen, bei denen Hunderte festgenommen, inhaftiert und gefoltert wurden. Viele der Verletzten erlitten bleibende Schäden. Für die Menschen in Nisêbîn stellt das Massaker von 1992 einen historischen Wendepunkt und einen unvergesslichen Schmerz dar.

Sie haben selbst auf Menschen geschossen, die in den Fluss sprangen“

Salih Falay ist einer der Überlebenden des Massakers. Er berichtet über den Angriff der Polizei auf den Sitzstreik an der Brücke „Pira Şehîdan“. Er erinnert sich: „Als wir zum Sitzstreik übergingen, kam die Polizei von vorne. Sie haben uns regelrecht niedergemäht. Unser Herz blutet, wenn wir von diesem Tag erzählen. Sie fuhren mit den Fahrzeugen in uns rein, um uns zu zerstreuen. Die Menschen haben sich die Schultern, Hände und Füße gebrochen. Es sind auch mehrere gestorben. Manche mussten sich von der Brücke in den Fluss werfen. Eine Freundin war dort. Sie hatte fünf Kinder. Sie sprang in den Fluss, aber die Polizei durchsiebte sie von oben mit Kugeln. Die Polizei fuhr einem unserer Freunde über den Kopf, es gab ein schreckliches Geräusch. Später gab es ein Trauerzelt für die Getöteten, aber die Polizei wollte auch das verhindern. Die Menschen nahmen dennoch, manchmal auch heimlich, an den Trauerzeremonien teil. Der Schmerz über das Massaker von Pira Şehîdan kann nicht vergessen werden. Wenn ich mich daran erinnere, dann fühle ich immer noch den Schmerz.“

Es war wie ein Weltuntergung“

Rahime Aksu überlebte ebenfalls das Massaker. Sie erinnert sich: „Trotz des regnerischen Wetters feierten wir unser Newroz. Alle gingen wieder nach Hause. Am nächsten Tag versammelten wir uns wegen der Toten in Cizîr. Ich hatte ein Baby in meinen Armen. Die Leute haben mich auf der Straße gesehen und sagten, ich müsse das Baby zu Hause lassen. Als ich das Baby wieder nach Hause brachte, begannen die Schüsse. Als ich wieder rauskam, sah ich die Menschen rennen. Ich fragte, was geschehen war, und sie berichteten von einem Sitzstreik an der Pira Şehîdan. Wir haben versucht, dorthin zu gelangen. Als wir uns näherten, sahen wir diese Untaten. Sie schossen zuerst auf diejenigen auf der Brücke, dann fuhren sie mit Panzern über die Brücke und zermalmten die Menschen, die nicht aufstehen konnten. Es wurden Leichen aus dem Wasser gezogen. Es war ein Weltuntergangsszenario.“

Weder Schmerz noch den Widerstand von Nisêbîn werden vergessen“

Aksu versuchte, beim Bergen der Leichen zu helfen: „Wir nahmen Decken und machten uns auf den Weg zum Ort des Massakers. Als wir dort ankamen, begannen wir sowohl die Verletzten als auch die Gefallenen zu tragen. Später verteilten sich die Teilnehmenden an der Aktion auf die Häuser. Die Polizei begann die Häuser zu stürmen und zu verwüsten. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Der Schmerz und der Widerstand von Nisêbîn sind tief. Nisêbîn hat so viel gelitten. Aber es gab auch ebenso viel Widerstand. Seither – bis heute – hat sich nichts verändert. Die Unterdrückung ist sogar noch schlimmer geworden.“