„Nicht wir, die Besatzer werden dieses Land verlassen“

Was sich 1938 in Dersim abgespielt hat, wiederholt sich heute in Südkurdistan. Dörfer werden bombardiert und entvölkert. Eine Betroffene fordert: „Die Soldaten müssen die Berge verlassen, denn diese Berge gehören uns.“

Die Bevölkerung von Südkurdistan ist ein weiteres Gesicht des Widerstands von Heftanîn. Es ist vermutlich das unschuldigste und ein schwer zu beschreibendes Gesicht. Ihr könnt tun, was ihr wollt, eine Beschreibung dieser Menschen kann niemals vollständig sein. Seit Jahren erleben sie jede mögliche Art des Schmerzes. Vor ein paar Tagen war ich in Evlehe, einem Dorf im Gebiet Pirbula in Heftanîn. Es liegt direkt unterhalb des Koordine-Gipfels. Dieser Berggipfel hat eine strategisch wichtige Bedeutung in Heftanîn, denn er liegt genau in der Mitte. Weil er sehr hoch ist, können von dort aus alle Bewegungen in der Region kontrolliert werden, vor allem die umliegenden Dörfer. Die Besatzer wollen diesen Gipfel einnehmen. Es finden immer noch gelegentlich Gefechte zwischen der Guerilla und den Besatzungstruppen statt.

Seit knapp zwei Wochen wird der Koordine-Gipfel jede Nacht von Cobra-Hubschraubern durchsiebt, anschließend werden Truppen abgesetzt. Sobald sich die Besatzer bewegen, schlägt die Guerilla zu. Daher kommen sie nicht weiter und deshalb wird jeden Tag ein Dorf bombardiert. Vor einigen Tagen ist auch Evlehe bombardiert worden. Als ich in dem Dorf war, waren gerade Granaten auf die Häuser abgefeuert worden. Weil die Menschen das Dorf und ihre Häuser nicht verlassen, werden sie bombardiert. Der Feind kommt gegen die Guerilla nicht an und greift die Dorfbevölkerung an.

Das geht seit Jahren so. Erinnert euch, wie unser schönes Dersim entvölkert wurde. Wie diejenigen, die Dersim nicht verlassen wollten, getötet wurden. Ihr erinnert euch doch an das Dersim-Massaker von 1938? Der große Genozid. In einer Gegend, in der sich die Dörfer immer ihre Kultur, Sprache, Lebensart und alles, was sie ausmachte, bewahrt haben. Solche Orte werden immer von denen angegriffen, die diese Eigenarten hassen. Beim Dersim-Massaker sollte alles ausgelöscht, zerbrochen, zersplittert und auseinandergetrieben werden, was die Lebensweise in Kurdistan ausmacht: Die mit dem Boden verbundene Kultur, die mit den Bergen verschmolzenen Herzen. Die Gleichheit zwischen Frau und Mann. Niemand sollte sich mehr an den Namen, die Sprache und den Glauben von Dersim erinnern. Zuerst wurden die Dörfer entvölkert. Wer nicht gehen wollte, wurde mitsamt seinem Dorf verbrannt.

„Unsere Berge werden seit Jahren bombardiert“

Wie mutig dort Widerstand geleistet und gekämpft wurde, ist erst Jahre später von Augenzeugen berichtet worden. Sie haben gesehen, wie die Frauen sich gewehrt haben und dass Widerstand bei kurdischen Frauen angeboren ist, aber vor sich selbst wollten sie es nicht zugeben. Keiner der als Augenzeugen oder Täter beteiligten Militärs ist jemals bestraft worden. Sie begingen Selbstmord, verließen die Armee oder wurden zu Foltermaschinen. Sie alle waren Mörder. Die Vertreibung aus der Heimat und das Niederbrennen der Dörfer hat jedoch nichts daran ändern können, dass diese Menschen Kurden sind und es sich bei der verbrannten und zerbombten Landschaft um Kurdistan handelt.

Und jetzt geschieht dasselbe in Südkurdistan. Ich habe in Evlehe mit einer Frau Tee getrunken, deren Haus bombardiert wurde. Das sind ihre Worte: „Diese Berge gehören doch nicht den Türken, wie wollen sie hier leben? Jeden Tag wird ihnen mit Hubschraubern Wasser gebracht, sogar ihre Stellungen werden mit Hubschraubern transportiert. Sie können sich nur mit Gewalt in den Bergen halten. Die Guerilla hat das Wasser auf dem Rücken transportiert, das haben wir gesehen und miterlebt. Diese Berge gehören uns. Wir verlassen unsere Dörfer nicht. Sie müssen gehen. Dieser Boden gehört uns. Das weiß selbst mein kleiner Sohn. Jeden Tag kommt einer von der Regierung aus dem Süden. Sie sagen, dass wir uns morgens um unsere Gärten kümmern und abends woanders hingehen sollen. Das haben ihnen die Türken gesagt. Wir arbeiten im Haus und im Garten und abends kommen sie und bombardieren uns.

Diese Gegend wird seit Jahren bombardiert, seit Jahren sind jede Nacht Cobras über uns in der Luft. Der türkische Staat lässt uns keinen Tag in Ruhe. Sieht die Welt das nicht? Sieht das türkische Volk es nicht? Die Kurden stehen allen Völkern in den schwierigsten Situationen zur Seite, warum schweigen jetzt alle? Die Soldaten müssen die Berge verlassen, denn diese Berge gehören uns. Wenn jemand gehen muss, dann sind sie es, nicht wir.“

Man sagt, dass man nicht studieren und Bücher lesen muss, um die Gefühle einer Mutter zu verstehen. Wenn man etwas über Faschismus erfahren will, reicht es aus, in Kurdistan zu leben.