Der „Lange Marsch“ der kurdischen Jugendbewegung startete gestern seine fünfte Etappe in Leverkusen und erreichte in den Mittagsstunden Köln. Dort gab es gegen 13:00 Uhr erste Behinderungen durch die Polizei, die aus unbekannten Gründen die Demonstration stoppte, um die Personalien von vier Teilnehmenden zu erfassen. Gegen 17:00 Uhr wurde die Demonstration dann auch auf der Kalk-Mülheimer-Straße angehalten, die Teilnehmenden wurden eingekesselt. Die Jugendlichen waren in diesem Kessel über sieben Stunden eingeschlossen, ohne Wasser, Nahrung oder Möglichkeiten, zur Toilette zu gehen. Teilnehmer:innen berichteten, dass sie einzeln mit brutaler Gewalt von der Polizei aus dem Kessel geholt worden seien, es habe mehrere Verletzte gegeben. Dreimal soll ein Krankenwagen gerufen worden sein, weil Menschen im Kessel kollabierten. Bis auf eine Person konnten die Betroffenen offenbar vor Ort behandelt werden, eine Teilnehmerin musste jedoch ins Krankenhaus gebracht werden. Vier Personen wurden zur Identitätsfeststellung auf das Polizeipräsidium gebracht, aber noch am selben Abend wieder freigelassen. Eine Rechtsanwältin, die vor Ort vermitteln wollte, ist eigenen Angaben nach von der Polizei mit Gewalt daran gehindert worden, mit den im Kessel eingeschlossenen Menschen zu sprechen. Erst gegen 02:30 Uhr in der Nacht zum Freitag sind die letzten Menschen aus dem Kessel gekommen.
„Wir standen aufrecht und zusammen bis zuletzt – und wir stehen immer noch!“
Eine junge Internationalistin schilderte gegenüber ANF ihre Erlebnisse im Polizeikessel: „Ich habe uns im Kessel bis zum Ende als sehr kraftvoll erlebt, sehr gefestigt und stark. Dieses Erlebnis hat uns noch willensstärker gemacht.“ Sie habe eine „Lust zur Eskalation und Gewalt“ in den Augen der Beamt:innen, die sich nur schwer hätten zurückhalten können, gesehen. „Sie haben die Teilnehmenden der Demonstration nicht als Menschen wahrgenommen“, glaubt die Internationalistin. Das habe sich auch im gesamten Verhalten der Einsatzkräfte widergespiegelt. „Die sind immer wieder brutal in den Kessel reingegangen, haben den Menschen ins Gesicht geschlagen“ erzählt sie weiter. Selbst der Einsatzleiter habe Schwierigkeiten gehabt, seine Truppe unter Kontrolle zu halten. Ihr sei ein Ohrring ausgerissen worden, und während ein Beamter sie von vorne an den Haaren packte, habe ein zweiter sie so stark am Nacken gefasst und geschüttelt, dass sie zwischenzeitlich ihre Orientierung verlor. „Wir haben uns untergehakt, haben uns gegenseitig gestützt, und wir haben die ganze Zeit gesungen. Das war echt krass! Wir waren so wenige, aber wir haben eher die zermürbt als die uns“, erzählt die Person. Einige andere Teilnehmende seien kollabiert oder hätten migräneartige Kopfschmerzen bekommen. „Wir waren zwar körperlich an unserer Grenze, wir hatten Hunger und Durst, waren übermüdet. Doch unser Geist wurde immer stärker. Ich habe gemerkt, wie schwach die Polizist:innen eigentlich waren. Es hat mir Kraft gegeben zu wissen: ich weiß, warum ich hier stehe, und ihr brecht mich nicht, egal was ihr tut!“ Sie sei auf jeden Fall durch das Erlebte noch stärker und entschlossener geworden: „Das war mein Gefühl am Schluss: es ging nicht um gewinnen oder verlieren, es ging darum einzustehen für das, wofür man steht, und wir standen aufrecht und zusammen bis zuletzt – und wir stehen immer noch!“
Polizeiwillkür jenseits aller Rechtsstaatlichkeit
Die Polizei hat die für heute geplante sechste Etappe grundlos verboten, zur Zeit laufen jedoch Bemühungen, dass eigentlich im Grundgesetz verankerte Demonstrationsrecht zu verteidigen, erklärte das Organisationskomitee der Veranstaltung. „Wie wir eben erfahren, äußerte die Polizei, sie wolle die Teilnehmer:innen auf keinen Fall nach Aachen „einreisen“ lassen. Auch dies stellt einen vollkommen unverhältnismäßigen Einschnitt in unsere demokratischen Rechte dar. Von unserer Demonstration ist zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr ausgegangen. Hier soll mal wieder ein Exempel statuiert werden.“
Jugendorganisationen protestieren gegen die Angriffe
Die Jugendorganisationen TCŞ und TekoJin, die zu der Demonstration aufgerufen hatten, veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Entschlossenheit der Marschbeteiligten begrüßen und gegen die Haltung des deutschen Staates protestieren: „Wir verurteilen die Haltung der deutschen Regierung, die sich wie die Europa-Filiale des faschistischen türkischen Besatzerstaates verhält, und die Maßnahmen der deutschen Polizei, die die Rolle eines verlängerten Arms von Erdogans Polizei zu übernehmen scheint. Die Demonstration der Jugendlichen war legal, den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend angemeldet und genehmigt. Durch die Angriffe versucht man, vom eigentlichen Thema der Demonstration abzulenken und eine legale und legitime Aktion zu kriminalisieren.“
Die Jugendorganisationen rufen die Kurdinnen und Kurden in Deutschland auf, sich hinter die Jugendlichen zu stellen und sie zu unterstützen, so wie diese sich hinter die Freiheitsguerilla in den Bergen Kurdistans stellen. Außerdem bekräftigten sie ihren Entschluss, gegen die Beschneidung ihrer demokratischen Rechte vorzugehen und ihren legitimen Kampf noch zu verstärken. „Eure Angriffe können uns nicht aufhalten, jeder eurer Angriffe macht uns nur noch entschlossener, noch stärker.“
Früher am Tag hatte es zum Auftakt der gut zwanzig Kilometer langen Etappe zwischen Leverkusen und Köln-Mülheim eine Protestaktion gegen den Einsatz von Chemiewaffen durch die türkische Armee in Kurdistan gegeben. Die Aktivist:innen aus mehreren Ländern hatten sich in Schutzanzügen und mit gelbem Rauch am Chempark Leverkusen versammelt und zeigten Symbole der kurdischen Guerilla.
Widerstandstradition der kurdischen Jugendbewegung
Der lange Marsch (ku. Meşa Dirêj) ist eine traditionelle Veranstaltung der kurdischen Jugendbewegung mit dem Ziel der physischen Freiheit von Abdullah Öcalan und findet in diesem Jahr vom 11. bis 16. September statt. Abgedeckt wird die Strecke zwischen Essen und Aachen mit Zwischenhalten in Duisburg, Krefeld, Düsseldorf, Leverkusen und Köln-Mülheim. Die Aktion trägt 2022 das Motto „Für die Freiheit von Rêber Apo – Kommt zum Befreiungskampf!“ (ku. Ji Bo Azadiya Rêber APO – Werin Cenga Azadiyê!). Unter den Teilnehmenden sind kurdische und internationalistische Aktivist:innen aus Deutschland, England, Frankreich, Schweiz, Kolumbien, Österreich, Italien, Spanien und den Niederlanden.