KRI: Fünf tote Zivilisten in einem Monat durch türkischen Beschuss

Nach einem Bericht der Friedensinitiative Community Peacemaker Teams (CPT) hat die Türkei im Zuge ihrer „Operation Claw-Lock“ innerhalb eines Monats fünf Menschen in der Kurdistan-Region Irak getötet und fünfzehn weitere verletzt.

Nach Angaben der Friedensinitiative Community Peacemaker Teams (CPT) hat die Türkei im Zuge ihrer „Operation Claw-Lock“ innerhalb eines Monats fünf Menschen in der Kurdistan-Region Irak (KRI) getötet und fünfzehn weitere verletzt. Seit 2015 seien damit laut Recherchen der Organisation mindestens 129 Zivilist:innen in Südkurdistan bei Angriffen der türkischen Armee ums Leben gekommen, bis zu 180 weitere wurden verletzt. „Claw-Lock ist nur eine von vielen in einer Reihe von türkischen Militäroperationen, die Tod und Vertreibung über die Menschen in dieser Region gebracht haben. Die Community Peacemaker Teams und ihre Partner der internationalen Kampagne ‚End Cross Border Bombings‘ verurteilen jeden einzelnen Todesfall und das Leid, das die türkischen Streitkräfte der Zivilbevölkerung zugefügt haben“, erklärt die Initiative.

Weitgehend unbeachtet von der hiesigen Öffentlichkeit greift die Türkei wieder einmal die Kurdistan-Region Irak – Südkurdistan an. Am 17. April 2022 startete die türkische Armee ihre Invasion „Claw-Lock“ (dt. „Fesselgriff“), die sich nach offiziellen Angaben der türkischen Regierung gegen Stellungen der PKK-Guerilla richtet. Wie bereits in der Vergangenheit wird aber auch die kurdische Zivilbevölkerung getroffen. Laut CPT-Iraqi Kurdistan sei das eigentliche Ziel des Großangriffs, „die totale militärische Kontrolle über die gebirgige Grenzregion zu erlangen“.

In dem neuesten Bericht von CPT werden Luft- und Bodenangriffe der Türkei gegen die Zivilbevölkerung im Zeitraum vom 21. Mai bis 21. Juni 2022 aufgelistet. Unter den fünf getöteten Zivilisten befanden sich zwei Erwachsene und drei Minderjährige. Dazu heißt es:

„Die ersten Zivilisten, die bei ‚Claw-Lock‘ getötet wurden, waren der 43-jährige Aram Haji Kaka Khan und sein 50-jähriger Schwager Ismaeel Ibraheem aus dem Dorf Tutaqal, 140 km südlich der irakisch-türkischen Grenze. Am 21. Mai um 5:15 Uhr morgens hörte Aram Haji, der Dorfvorsteher von Tutaqal, einen türkischen Luftangriff auf das Dorf. Einige Stunden später machten er und Ismaeel sich auf den Weg, um den Explosionsort zu untersuchen. Sie entdeckten eine Reihe schwer verwundeter PKK-Mitglieder und versuchten, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Eine türkische Drohne feuerte eine Rakete auf ihr Auto ab und tötete Aram, Ismaeel und die Kämpfer. Durch den Beschuss eines zivilen Fahrzeugs, das Zivilisten und verwundete Kämpfer transportierte, begingen die türkischen Streitkräfte Kriegsverbrechen. Die beiden Schwager waren Überlebende der genozidalen ‚Anfal-Operation‘ von Saddam Hussein in den 1980er Jahren, die in der Gegend um Tutaqal besonders brutal war. Nach dem Vorfall vom 21. Mai sind acht von zehn Familien aus Angst vor weiteren Bombardierungen aus dem Dorf geflohen.“

Zivile Opfer der türkischen Invasion im Berichtszeitraum © CPT-IK


Der Bericht greift auch den Drohnenangriff auf Sinûnê im ezidischen Kerngebiet Şengal am 15. Juni auf. Ziel der Attacke waren das Gebäude des Volksrats der Kleinstadt, die überwiegend von Überlebenden des IS-Genozids von 2014 bewohnt wird, und eine angrenzende Buchhandlung. In dem Geschäft wurde ein zwölfjähriger ezidischer Junge getötet, sein Großvater und acht weitere Zivilpersonen wurden teils schwer verletzt. Einer dieser Verwundeten, der ezidische Aktivist Ibrahim Derwêş Evdî, erlag am 23. Juni in einem Krankenhaus in Mosul seinen Verletzungen. Die CPT stellen fest: „Die Bombardierung eines bebauten Wohnviertels durch die Türkei stellt ein Kriegsverbrechen dar.“

Fünf Verletzte durch Artilleriebeschuss

Neben Luftangriffen auf die Bevölkerung Südkurdistans werden zivile Siedlungsgebiete regelmäßig auch von Außenposten der türkischen Armee sowie Stützpunkten des Nato-Partners auf dem Gebiet der Kurdistan-Region Irak angegriffen. Am 15. und 17. Juni wurden zwei verschiedene Dörfer von Besatzungstruppen unter Beschuss gesetzt:

„Das landwirtschaftlich geprägte Dorf Parakhe liegt in einem Tal acht km von der irakisch-türkischen Grenze entfernt in der Region des Unterbezirks Darkar. Dreißig Familien leben ständig in dem Dorf, andere kehren zurück, um das Land ihrer Familie saisonal zu bewirtschaften. In den vergangenen zwei Jahren haben die türkischen Streitkräfte zwei Stützpunkte in den Bergen oberhalb von Parakhe errichtet. Am 15. Juni um 15.49 Uhr bewässerten der 53-jährige Bauer Nazir Omer und sein Sohn, der 24-jährige Mohammad Nazir, ihren Feigen- und Granatapfelgarten, als von einem nahen gelegenen türkischen Stützpunkt Artillerie abgefeuert wurde und beide Männer verletzte. Nazir Omer berichtete dem CPT, dass er während der Explosionen ohnmächtig wurde und in einem Krankenhaus in Zakho mit zwei Schrapnellwunden im Rücken wieder aufwachte. Seine Verwandten hatten die bewusstlosen Männer gerettet und in die Klinik gebracht. Mohammed hatte eine Schrapnellwunde an der Handfläche erlitten.

Von seinem Krankenhausbett aus berichtete Nazir Omer dem CPT, dass im Oktober 2021 etwa 150 türkische Soldaten von ihrem neu errichteten Stützpunkt oberhalb des Dorfes nach Parakhe kamen. Die Soldaten gingen von Haus zu Haus und warnten die Bewohner, dass das Dorf beschossen würde, wenn sie mit der PKK zusammenarbeiteten.

Besuch bei Nazir Omer in einem Krankenhaus in Zakho © CPT-IK


Die Bewohner von Parakhe geben zwar an, dass die PKK-Mitglieder nicht in dem Dorf operieren, doch haben sie berichtet, dass in den Monaten vor dem jüngsten Angriff zweimal Artilleriegranaten in der Nähe von Parakhe eingeschlagen sind. Der Beschuss am 15. Juni war das erste Bombardement, das direkt auf das Dorf abzielte, wobei Nazir Omer und Mohammed als erste Bewohner von Parakhe verwundet wurden. CPT-IK befürchtet, dass das türkische Militär nicht nur ein Kriegsverbrechen begeht, indem es direkt auf Zivilisten zielt, sondern auch beabsichtigt, die Dorfbewohner von Parakhe unter Druck zu setzen, damit sie ihre Häuser und ihr Land verlassen und eine von der Zivilbevölkerung ‚gesäuberte‘ Landschaft um türkische Militärstützpunkte herum schaffen. Diese Praxis wurde in Gebieten beobachtet, die an Dutzende von Stützpunkten in den Grenzregionen angrenzen. Derartige Zwangsvertreibungen der Zivilbevölkerung und die Einschränkung des Zugangs zum Lebensunterhalt sind Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.

Am 17. Juni um 17:10 Uhr feuerten türkische Soldaten mit schweren Maschinengewehren mehrere Schüsse auf Zivilisten im Dorf Kesta ab. Kesta liegt im Unterbezirk Kani Masi im Bezirk Amedi, neun km südlich der türkisch-irakischen Grenze. Bei den Verletzten handelt es sich um drei ortsansässige Frauen, die 28-jährige Kazhin Taha Saeed, die 49-jährige Nazira Abdulstar Ahmad und ihre 24-jährige Schwiegertochter Fawzya Diyar Omer, die an einem Freitagspicknick teilnahmen. Die Schüsse kamen von einem türkischen Stützpunkt auf dem Berg Zneri Kesta oberhalb von Kesta. Nach dem Bau des Stützpunkts im April 2021 begann das türkische Militär, das Dorf wiederholt zu beschießen und vertrieb die gesamte Bevölkerung. 2022 kehrten einige Familien zurück, um ihre verlassenen Höfe zu pflegen oder zu besuchen.

Zwei tote Kinder durch Granatenbeschuss

Am 26. Mai versammelten sich 1.000 Menschen aus Zewe Sery in der Stadt Bamerne im Bezirk Amedi. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass die ehemaligen Bewohner und ihre Angehörigen ihr Fest abhalten konnten - ein jährliches Ereignis, das die Familien aus Zewe Sery zusammenbringt, die in den 1990er Jahren aufgrund des Konflikts zwischen der Türkei und der PKK vertrieben wurden. Am späten Nachmittag spielten drei Jungen am Rande der Versammlung Fußball. Ohne Vorwarnung schlugen mindestens drei Mörsergranaten in rascher Folge wenige Meter von den Jungen entfernt ein. Der 13-jährige Yousif Kovan und der 11-jährige Avand Hishyar wurden getötet. Der 8-jährige Sipan Farhad wurde schwer verwundet.“

 Kovan, Hishyar und Farhad, die Väter der getöteten und verletzten Jungen des Angriffs vom 26. Mai, halten Telefone mit Bildern von Yousif und Avand in der Hand © CPT-IK


Nach Darstellung der Generaldirektion für Terrorismusbekämpfung der Regionalregierung in Hewlêr (Erbil) seien die Mörser von der PKK abgefeuert worden. Die Volksverteidigungskräfte (HPG) hatten jegliche Beteiligung an dem Angriff dementiert und kritisiert, dass die offizielle Darstellung von südkurdischen Medien völlig unkritisch übernommen wurde. Ähnlich äußert sich nun auch CPT-IK und weist darauf hin: „Die Analyse des Angriffsortes und der vom CPT-IK gesammelten Beweise deuten eher auf die türkischen Streitkräfte als verantwortliche Partei hin. Angehörige der getöteten Jungen berichteten CPT-IK, dass sie tagsüber Drohnen über der Menschenmenge schweben hörten. Die Nähe der Versammlung (800 m) zu dem großen türkischen Militärstützpunkt in Bamerne, die ballistische Präzision der Munition in Verbindung mit der Drohnenüberwachung lassen vermuten, dass die Versammlung absichtlich als Warnung oder mit tödlicher Wirkung angegriffen wurde.“ Die Initiative fordert: „Schützt das Leben der Zivilbevölkerung! Bringt wieder Leben in die Grenzregionen - Lasst die Zivilisten in ihre Dörfer zurückkehren!“

Der vollständige Bericht ist unter https://cptik.org/reports-1/civilian-casualties-claw-lock-jun2022 einsehbar.