Am 31. Dezember 2012 überraschte der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan die Öffentlichkeit, als er erklärte, dass Friedensgespräche mit dem inhaftierten PKK-Begründer Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali geführt werden. Ein Ende der kurdischen Frage schien damit in greifbarer Nähe. Über eine Millionen Kurdinnen und Kurden bejubelten am 21. März 2013 in der nordkurdischen Hochburg Amed (tr. Diyarbakır) die Friedensbotschaft Öcalans, der den bewaffneten Widerstand der PKK für beendet erklärte und eine politische Lösung des Konflikts in Aussicht stellte:
„Heute beginnt eine neue Ära. Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik. Es beginnt eine Ära, die sich vorwiegend um Politik, Soziales und Wirtschaft dreht; es entwickelt sich ein Denken, das auf demokratischen Rechten, Freiheit und Gleichheit beruht. Wir haben Jahrzehnte unseres Lebens für dieses Volk geopfert und einen großen Preis gezahlt. Keines dieser Opfer, keiner dieser Kämpfe war umsonst. Die Kurden haben zu sich selbst zurückgefunden und ihre Identität zurückgewonnen. Wir sind an dem Punkt zu sagen: Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen. Das Paradigma der Moderne von Ignoranz, Verleugnung und Ausgrenzung ist zerschlagen. Ob Türken, Kurden, Lasen oder Tscherkessen – die Menschen bluten und mit ihnen blutet das Land. Vor Millionen von Zeugen, die diesen Aufruf hören, sage ich: Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird im Vordergrund stehen. Die Zeit ist gekommen, unsere bewaffneten Kräfte hinter die Grenze zurückzuziehen.“
Nur gut zwei Jahre später, am 24. Juli 2015, nahm der Friedensprozess jedoch ein abruptes Ende. Mit der einseitigen Beendigung der Gespräche durch Tayyip Erdoğan ist ein neuer totaler Krieg gegen Kurdinnen und Kurden entfacht worden. Seitdem gehören politische und physische Vernichtungsoperationen zum Alltag der kurdischen Gesellschaft. Im südlichen Teil Kurdistans manifestiert sich der Krieg in der Gestalt von Terror aus der Luft. Zuletzt waren vergangene Woche drei Menschen in Bamernê, darunter zwei Minderjährige im Alter von vierzehn und sechs Jahren, bei einem Drohnenangriff der türkischen Armee getötet worden. Nach einem Bericht des Nationalkongress Kurdistan (KNK) sind seit der Kriegserklärung des türkischen Präsidenten mindestens 168 Zivilpersonen bei Luft- und Drohnenangriffen der Türkei in Südkurdistan ums Leben gekommen. Die Zahlen aus dem Report stützen sich teilweise auf Recherchen der kirchlichen Friedensinitiative Community Peacemaker Teams (vormals „Christian Peacemaker Teams“). Darin werden einzelne Fälle aus den Jahren zwischen 2017 und 2021 aufgelistet:
4. April 2017: Eine tote Zivilperson im ezidischen Kerngebiet Şengal durch Bombardierungen der türkischen Luftwaffe.
14. Dezember 2017: Bei einem türkischen Luftangriff werden im Flüchtlingslager Mexmûr vier Bewohner:innen getötet und zahlreiche Häuser beschädigt.
13. Dezember 2018: Ein türkischer Luftangriff tötet drei Frauen und ein junges Mädchen und führt zu schweren Sachschäden im Flüchtlingslager Mexmûr.
23. Januar 2019: Vier Zivilist:innen werden bei einem Luftangriff auf Dêrelûk (bei Amêdî) getötet. Trotz Behinderung durch lokale Sicherheitskräfte geht die lokale Bevölkerung am 25. Januar in der Region auf die Straße, um gegen die Massaker des türkischen Staates zu protestieren. Infolge eines Angriffs türkischer Soldaten sterben zwei weitere Zivilisten - darunter ein Kind - sechs weitere Menschen werden verletzt.
25. Juni 2019: Bei einem Angriff eines türkischen Kampfflugzeugs auf ein ziviles Auto in der Gegend von Goşin (Soran/Hewlêr) wird ein Zivilist getötet und ein weiterer schwer verletzt. Die Opfer sind Brüder.
28. Juni 2019: Türkische Kampfbomber attackieren zwei zivile Fahrzeuge im Dorf Berd Kuran in der Nähe des Kortek-Gebirges. Abdula Alî Mîne (53) und seine Kinder Kurdistan Abdula (30) und Heryad Abdula (19) werden getötet. Ihre Mutter Rabî Mihemed, die Familienmitglieder Mihemed Abdula, Taybet Mihemed Abdula, Benaz Abdula und eine weitere nicht identifizierte Person werden verletzt.
19. Juli 2019: Bei einem türkischen Luftangriff auf das Flüchtlingslager Mexmûr werden zwei Jugendliche verwundet.
15. Oktober 2019: Seyitxan Ayaz und Eser Irmak werden bei einem türkischen Drohnenangriff in der Stadt Silêmanî getötet. Beide waren politische Aktivisten, die auf die Angriffe der Türkei aufmerksam machen wollten.
15. April 2020: Drei junge Frauen werden bei einem türkischen Bombenangriff auf das Flüchtlingslager Mexmûr getötet.
18. Juni 2020: Ebas Mexdît wird bei einem türkischen Luftangriff in der Gegend von Sidêkan getötet.
19. Juni 2020: Kriegsflugzeuge des türkischen Staates bombardieren zivile Siedlungsgebiete bei Şîladizê). Dabei kommen fünf Zivilpersonen ums Leben.
24. Juni 2020: Bei der Bombardierung eines Picknickplatzes im Gebiet Şarbajêr nahe der Stadt Silêmanî sterben zwei Zivilisten.
27. Juli 2020: Dilovan Şahîn, Omer Keşanî und Ebdullah Ehmed sterben bei der Bombardierung der Umgebung von Amêdî.
25. Mai 2021: Der 20-jährige Bawer Ahmed wird durch Artilleriebeschuss des türkischen Staates verwundet, während er seine Felder im Dorf Deşişe bewässert. Auch andere Landwirte in der Gegend wurden durch Granatsplitter verwundet.
26. Mai 2021: Der 16-jährige Ali Muhsin und der 20-jährige Hasan Muhsin - beide Brüder - werden beim Füttern ihrer Tiere verwundet, als der türkische Staat das Dorf Biherê bombardierte.
1. Juni 2021: Der 70-jährige Ramazan Ali wird durch Artilleriebeschuss von Soldaten des türkischen Staates verwundet, als er seine Felder im Dorf Hirûre bewässerte.
8. Juli 2021: Ein Zivilist wird im Dorf Hirûre verwundet, als das Feuer von Außenposten des türkischen Militärs auf seine Anbauflächen eröffnet wird.
13. August 2021: Ibrahem Hassan Mohamad (51) wird von türkischen Soldaten erschossen, als er seine Felder im Dorf Deşişe (Kanî Masî) bewässerte. Die Bewohner:innen des Dorfes waren gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, da die türkische Armee seit Anfang des Jahres in diesem Gebiet operierte. Mohamad war kurz darauf zusammen mit zwölf anderen Vertriebenen zurückgekehrt, um seine Felder zu bewässern und so seine Familie zu versorgen.
17. August 2021: Bei vier türkischen Luftangriffen auf das Sikêniyê-Krankenhaus in Şengal kommen Elî Reşo Xidir, Sedo Îlyas Reşo, Hecî Xidir und Muhlise Sîdar vom Krankenhauspersonal ums Leben. Drei weitere Zivilpersonen werden durch türkische Bombardements verwundet, als sie den vom ersten Luftangriff Betroffenen zu Hilfe eilten.
20. August 2021: Ahmed Şakir (40) und Yousif Amir (26) werden bei Artilleriebeschuss durch türkische Soldaten im Gebiet Batifa (Zaxo) ermordet. Şakir und Amir waren als Touristen aus Mosul in die Region gekommen. Ihre Familien erfuhren erst zwei Tage später von ihrem Tod.
16. September 2021: Der aus Nordkurdistan geflüchtete Ferhat Barış Kondu wird beim Öffnen des Büros des Busunternehmens Can Diyarbekir in der Stadt Silêmanî von Killern des MIT (türkischer Geheimdienst) schwer verwundet.
17. September 2021: Der 64-jährige Yasin Bulut wird in Silêmanî von MIT-Killern erschossen.
17. Mai 2022: Mehmet Zeki Çelebi, ebenfalls Geflüchteter aus dem nördlichen Kurdistan, wird mutmaßlich von Auftragsmördern des MIT beim Verlassen seines Restaurants in Silêmanî ermordet.
KNK: Ein ignorierter Krieg
„Der türkische Staat führt einen genozidalen Krieg gegen das kurdische Volk. Mit diesen Angriffen will er seine Annexionsansprüche in Kurdistan durchsetzen. In Rojava (Nord- und Ostsyrien) zwingt die Türkei Kurdinnen und Kurden, ihre Häuser zu verlassen, und dort Mitglieder islamistischer Stellvertreterkräfte und deren Familien anzusiedeln, um so einen demografischen Wandel in der Region zu erzwingen. Obwohl der türkische Staat verbotene chemische Waffen einsetzt, den demografischen Wandel erzwingt, das Verbrechen der ethnischen Säuberung begeht, das Völkerrecht bricht, die natürliche Umwelt in den betroffenen Gebieten zerstört und den Tod von Menschen aus der Zivilbevölkerung verursacht, haben die internationalen Institutionen bisher keine Sanktionen gegen die Türkei verhängt.“
Schweigen ermutigt zu Mittäterschaft
Der KNK führt weiter aus, dass die Ignoranz der internationalen Institutionen und der Öffentlichkeit den türkischen Staat bei seiner kriegerischen Aggression ermutige:
Es erlaubt dem türkischen Staat, sich in der gesamten Region auszubreiten.
Es legitimiert den Einsatz von Chemiewaffen.
Es hilft Erdoğan, die Türkei noch autoritärer zu machen und seine faschistische Herrschaft über sein eigenes Volk auszubauen.
Indem er den Weg für neue Besatzungsoperationen ebnet, wird die Region destabilisiert.
So lange das Schweigen der internationalen Gemeinschaft angesichts dieses Krieges andauert, wird Erdoğan sich bestärkt führen, den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zu vollenden.
Der Bericht des KNK kann unter nachfolgendem Link eingesehen und heruntergeladen werden: http://www.kongrakurdistan.eu/en/wp-content/uploads/2022/06/Bilance-South-Kurdistan.pdf