Ko-Bürgermeister: Gever hat nicht nachgegeben

Der durch einen Zwangsverwalter ersetzte Ko-Bürgermeister der nordkurdischen Widerstandhochburg Gever, Irfan Sarı, sagt, die Menschen in Gever hätten trotz allem der Repression bis heute nicht nachgegeben.

Seit der Einsetzung eines Zwangsverwalters in Gever (tr. Yüksekova) in der Provinz Colemêrg (Hakkari) am 18. Oktober 2019 wird die Stadt massiv ausgeplündert. Die HDP-Hochburg hatte bereits zuvor unter Zwangsverwaltung gestanden. Damals hatte der Zwangsverwalter einen Schuldenberg von 680 Millionen TL (etwa 65 Millionen Euro) angehäuft. Während der aktuellen Zwangsverwaltung sind nun bereits eine Milliarde und 36 Millionen TL (etwa 100 Millionen Euro) Schulden aufgelaufen. Dennoch wurden keinerlei Probleme der Stadt gelöst, weder die Probleme mit der Kanalisation und der Wasserversorgung wurden beseitigt noch die Straßen repariert oder geteert. Im ANF-Gespräch äußert sich der durch das Innenministerium abgesetzte Ko-Bürgermeister Irfan Sarı (HDP) zur aktuellen Situation in Gever.


Raub soll normalisiert werden“

Sarı beschreibt Zwangsverwaltung als eine Form der Staatspolitik, auf der die AKP ihre Zukunft aufbaut: „Die Ernennung von Zwangsverwaltern ist zur Alltagspolitik geworden. Es wird versucht, das zu normalisieren und diese Politik denjenigen aufzuzwingen, die für Demokratie in der Türkei kämpfen, insbesondere dem kurdischen Volk. Dieses Vorgehen wird in der Türkei nicht diskutiert, sondern als Normalität dargestellt. Die HDP ist eine Partei, die sehr wichtige Errungenschaften erreicht und sich bewährt hat. Sie hat wichtige Schritte unternommen und an verschiedenen Orten in der Türkei politische Zustimmung erworben. Erdoğan und die AKP sehen darin eine Bedrohung, deswegen versuchen sie, den Weg für die HDP zu blockieren.“

Angriff auf die Zusammensetzung der Bevölkerung“

Der ehemalige Ko-Bürgermeister beschreibt die Lage: „Das AKP/MHP-Regime hat eine Kultur der Ausplünderung etabliert. Es hat unsere kulturelle Arbeit, unsere frauenpolitischen Projekte, die Projekte für Kinder und Jugendliche gestoppt und die Einrichtungen geplündert. Der Zwangsverwalter zerstörte den Haushalt der Stadt, leerte die Kassen der Kommunen und ließ die Gelder der AKP und ihren Anhängern zukommen. Zudem ließ er die Stadt für den Bau von Militäranlagen aufkommen. Dabei kam es zu massiver Korruption, da die ausgeschriebenen Aufträge an die eigenen Anhänger vergeben wurden. Unsere Abgeordneten im Parlament bringen das immer wieder deutlich gegenüber der Öffentlichkeit zur Sprache, wir machen diese Informationen öffentlich. Der Lebensraum der Menschen hier wird zerstört. Der Staat will das Gedächtnis und die Geschichte des Volkes auslöschen. Er versucht, die demografische Struktur zu verändern. Die Bevölkerung von Gever wurde in großen Teilen zur Abwanderung gezwungen. Das wird weiterhin versucht. In den Medien wird die Zwangsverwalterpolitik nicht mehr diskutiert. Die Situation, vor allem für unsere Stadt, ist schlimm. Seit 1934 hat unsere Stadt Infrastruktur- und Abwasserprobleme. Sie bräuchte Infrastruktur, aber der Treuhänder versucht, Unternehmen seiner Anhänger dafür einzusetzen. Das ist es, was sie tun wollen, nachdem sie uns die Hände gebunden haben. Sie wollen Rache für die Vergangenheit nehmen, indem sie eine zerstörte städtische Struktur schaffen.“

Das Volk von Gever bewahrt seine Haltung“

Sarı betont allerdings, dass sich die Menschen in Gever nicht von der Repression und Unterdrückung beeindrucken lassen: „Wir wollten unsere Stadt selbst verwalten. Wir haben eine Zeit erlebt, in der alles gemeinsam mit der Bevölkerung entschieden wurde. Das war es, was unser Volk wollte. An einem Ort wie Gever, an dem es überall Quellen gibt, gibt es nicht einmal Trinkwasser aus dem Wasserhahn. Die Zwangsverwaltung nahm dafür einen Kredit in Höhe von 60 Millionen TL auf, konnte aber das Wasserproblem nicht lösen. Süßwasserreserven sind in großem Maßstab vorhanden, aber seit 1934 hat sich an dem Problem nichts geändert. Zu unserer Zeit gab es dazu verschiedene Ansätze, aber leider haben die Zwangsverwaltung und die Blockade des Staates diesen Projekten ein jähes Ende gesetzt.“

Das Volk wird seine Selbstverwaltung erreichen“

Sarı warnt, der Staat wolle das Gedächtnis der Stadt „mit Beton übergießen“. Er zieht Parallelen zu den zerstörerischen Großprojekten in Rize (Ikizdere) und Istanbul und sagt: „Diese Zerstörungen sind Schritte, um die politische Struktur des Regimes in den Köpfen der Menschen festzusetzen. Sie wollen die Menschen so vom Kommunalismus abbringen. Unser Volk wird bald wieder seine eigene Selbstverwaltung haben. Es wird der AKP/MHP-Block sein, der am Ende neutralisiert wird. Die Politik der Zwangsverwalter verursacht für die Menschen in den Städten schweres Leid, aber auch Fauna und Flora werden durch die Politik des Zwangsverwalters geschädigt.“

Fast 100 Millionen Euro Schulden

Als die HDP nach den Wahlen am 31. März 2019 wiedergewählt und damit die erste Zwangsverwaltung abgewählt worden war, betrug die Schuldenlast von Gever 686 Millionen TL. Sarı führt aus: „Deshalb konnten wir bei unserem Amtsantritt nach den Kommunalwahlen 2019 nicht einmal unsere Mitarbeiter:innen bezahlen. Heute wissen wir, dass eine Milliarde 36 Millionen TL (fast 100 Millionen Euro) Schulden aufgenommen worden sind. Das ist Geld, das aus den Taschen des Volkes von Gever und der Bevölkerung der Türkei kommt. Wir sprechen über eine Summe, die an Anhänger des Zwangsverwalters abgeführt wurde. Die Schulden werden die Kommune für die nächsten dreißig Jahre plagen.

Leben der Menschen von Gever auf Jahrzehnte verpfändet“

Alle Dienstleistungen wie Bau, Abwasser, Reinigung und sonstige Dienstleistungen werden nicht finanzierbar sein. Die Dienstleistungen einer Gemeinde sind unter in diesen vier Punkten zusammengefasst. Andere Dienstleistungen bauen darauf auf. Für 30 bis 40 Jahre wurde jedoch das Leben der Menschen Gever verpfändet und die Zukunft der Menschen gestohlen. Wir werden dagegen ankämpfen. Wenn wir mit unserem Volk zusammenkommen, werden wir das überwinden. Wir werden die notwendige Lektion an der Wahlurne erteilen."