Der Oberkommandierende des zentralen HPG-Hauptquartiers, Murat Karayılan, hat sich in einer Sondersendung beim kurdischen Fernsehsender Stêrk TV zur andauernden Invasion der Türkei in Südkurdistan geäußert. Laut Karayılan, der auch Mitglied im Exekutivkomitee der PKK ist, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die kurdische Bewegung über Kontaktpersonen um einen Waffenstillstand innerhalb Nordkurdistans gebeten. Im Gegenzug sei der PKK „freie Hand” in anderen Teilen Kurdistans angeboten worden. Nachfolgend veröffentlichen wir den ersten Teil des leicht gekürzten Interviews in deutscher Übersetzung.
Der Vorfall am 5. Juni in Metîna steht derzeit im Mittelpunkt der kurdischen Agenda. Ein Konvoi von PDK-Kräften hatte versucht, am besagten Tag in das Guerillagebiet einzudringen. Währenddessen kam es zu einer Explosion. Die HPG dementierten jegliche Beteiligung, die PDK macht dennoch die PKK-Guerilla für diesen Angriff verantwortlich. Was steckt hinter diesem Vorfall?
Die Phase, die wir gegenwärtig erleben, ist eine wichtige Etappe im Kampf des kurdischen Volkes. Gegen diesen Kampf schmiedet der Feind heimtückische Pläne. Es ist allgemein bekannt, dass Rêber Apo (Abdullah Öcalan) 2013 [im Zuge der Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK] einen Waffenstillstand in Nordkurdistan ausrief. Diese Waffenruhe dauerte etwa zweieinhalb Jahre an. Der türkische Staat erkannte jedoch, dass die Hand der Kurden dadurch im Mittleren Osten stärker wurde. Recep Tayyip Erdoğan entschied sich dafür, den Verhandlungstisch umzuwerfen, obwohl die Gespräche ein gewisses Niveau erreicht hatten. Unmittelbar danach verbündete er sich mit Personen wie Devlet Bahçeli und Doğu Perinçek, die den Kurden offen feindlich gegenüberstanden, und leitete einen umfassenden Angriff gegen unsere Bewegung ein. Das Ziel war es, zuerst die PKK zu zerschlagen, um sodann die Errungenschaften des gesamten kurdischen Volkes zu beseitigen. Das ist die Intention dieses neuen Konzepts: die Erfolge der Kurden in der gesamten Region zunichte machen. In diesem Rahmen wütet seit sechs Jahren ein weitreichender Krieg gegen uns.
Zu Beginn dieses Jahres hat die Intensität des Krieges stark zugenommen. Als erstes muss genannt werden, dass die Folter an Rêber Apo auf Imrali andauert. Seit geraumer Zeit wird jegliche Kommunikation mit ihm unterbunden. Parallel dazu setzt der türkische Staat auf die psychologische Kriegsführung gegen unsere Bewegung. Zehntausende unserer Freunde sitzen in den Kerkern des Regimes ein und werden gefoltert. Tagtäglich finden Verhaftungsoperationen gegen unser Volk statt, ebenso werden in allen Teilen Nordkurdistans Militäroperationen durchgeführt. Da wären etwa die Operationen in Garzan, Wan, Mêrdîn und Botan zu nennen, die seit dem Frühjahr andauern und zu Verlusten in unseren Reihen geführt haben. Diese Entwicklungen lassen sich tagesaktuell in den Medien verfolgen. Auch der Besatzungsplan des türkischen Staates in Südkurdistan schreitet seit drei Jahren Schritt für Schritt voran.
Der Grundgedanke dahinter ist der, zunächst einige Regionen zu besetzen, um sich dann dauerhaft in Südkurdistan niederzulassen. Die Invasion in Metîna, Zap und Avaşîn wurde eingeleitet, nachdem zuvor einige Gebiete in Heftanîn und Xakurke besetzt wurden. Mit dem heutigen Tag dauert dieser Besatzungsangriff seit 46* Tagen an. Ich spreche von einem umfassenden Angriff auf uns. Die von unseren Freunden dominierten Regionen in Südkurdistan beispielsweise werden 24 Stunden lang von etwa 30 Aufklärungsdrohnen überflogen. Luftangriffe durch Kampfflugzeuge finden kontinuierlich statt. Mal trifft es Mexmûr und mal andere Gebiete. Damit will ich sagen, dass es sich um einen fortlaufenden Angriff gegen uns handelt. Warum sollten wir in einer Situation wie dieser, mitten in einem Kampf mit hoher Intensität, mittels einer Attacke auf die Peschmerga eine neue Kriegsfront eröffnen? Wäre dies klug? Mitnichten.
Peschmerga nicht von Guerilla angegriffen
Vor allem in einer Region wie Metîna wäre dies äußerst unklug. Es stünde sogar jenseits von Sinn und Logik, dort eine zweite Front gegen die Peschmerga zu öffnen, während im Norden der Krieg in seiner Hochphase ist. Wir weisen die Behauptung, den Konvoi angegriffen zu haben, entschieden zurück. Schließlich ist die Guerilla nicht von allen guten Geistern verlassen. Hinter dem Vorfall steckt die Absicht, einen Krieg zwischen Peschmerga und Guerilla auszulösen. Von unserer Seite gab es keine Anweisungen, Peschmerga-Kräfte anzugreifen. Es sind keine derartigen Entscheidungen getroffen worden, auch Aktivitäten in diese Richtung gab es nicht. Ein innerkurdischer Krieg kommt für uns einer Katastrophe gleich. Wir sehen darin den größtmöglichen Fehler, den wir unter keinen Umständen begehen wollen. Aber es ist offensichtlich, dass hier ein abgekartetes Spiel läuft.
Wir sind uns nur zu gut im Klaren darüber, dass ein Krieg unter Kurden in einer sensiblen Phase wie dieser in eine große Dunkelheit führen wird. Dies liegt weder im Interesse kurdischer Bewegungen noch des kurdischen Volkes. In dieser Hinsicht sollte der Vorfall, der sich in Metîna zugetragen hat, lückenlos aufgeklärt werden. Es ergibt keinen Sinn, morgens um vier Uhr mit zwei Militärkolonnen in Angriffsposition in diese Region einrücken zu wollen. Es handelt sich um ein von der Guerilla dominiertes militärisches Gebiet, das seit 25 Jahren von der Peschmerga nicht betreten worden ist. Man hätte im Vorfeld in einen Dialog [mit der Guerilla] treten können. Es heißt, die Peschmerga habe lediglich ihre ganz normalen Pflichten erfüllen wollen. Da fragen wir uns natürlich, warum wir nicht in Kenntnis gesetzt worden sind.
Was kann es damit auf sich haben, ohne Ankündigung mit hundert Fahrzeugen in Metîna vorzufahren? Sie [Peschmerga] sagen jetzt natürlich, sie seien die dominierende Kraft und müssten niemanden um Erlaubnis für eine Truppenverlegung bitten. Das mag sein, aber fünf Kilometer weiter findet ein intensiver Krieg statt. Da müsst ihr euch schon an anderer Stelle positionieren. Warum leistet ihr dem türkischen Staat Hilfe? Okay, ihr seid die dominierende Kraft in der Region, aber der Krieg sorgt für außergewöhnliche Bedingungen. Während Kampfflugzeuge alles in Schutt und Asche bombardieren, konzentriert ihr eure Truppen hinter unsere Front. Ist das mit Menschlichkeit, mit einer kurdischen Haltung vereinbar? Kann es eine logische Erklärung für dieses Verhalten geben? Es wird behauptet, die Guerilla habe einen vorbeifahrenden Konvoi angegriffen. Das entspricht nicht der Wahrheit. Lassen Sie mich erwähnen, dass wir Freunde haben, die sich als Vermittler zur Verfügung stellen. Wir leben im 21. Jahrhundert, unsere Devise ist die, dass die gesamte Menschheit ihre Konflikte im Dialog aus dem Weg räumt. Warum können wir also nicht einen gegenseitigen Dialog untereinander führen und bestehende Probleme lösen? Aus welchen Gründen wird auf militärische Mittel und Angriffe wie aus dem Nichts gesetzt, statt auf das Wort? Wem und was dient dieses Handeln?
Warum gab es die militärischen Aktivitäten, wenn die Kommunikationskanäle doch offen waren?
Das fragen wir uns auch. In den nördlichen Gebieten von Metîna, am Zendûra-Gipfel, in Çemço, in Qela Bêdewê in der Zap-Region und am Girê Mervanis in Avaşîn steckt die türkische Armee in einer Sackgasse. Die Angriffswelle wurde durchbrochen, die Besatzer können nicht vorrücken. Das kurdische Volk kann nur stolz auf den Widerstand sein, den diese jungen Frauen und Männer dort mit neuen Methoden gegen Kriegsflugzeuge, Panzer, Granaten und chemische Kampfstoffe leisten. Diese Situation ist neu in der Geschichte des kurdischen Widerstands und im Grunde der Vorbote neuer Errungenschaften für unser Volk.
In Zendûra versucht der türkische Feind momentan, in die Tunnel der Guerilla einzudringen. Dafür setzt er auf die kurdische Karte. Benutzt werden Kollaborateure innerhalb des Dorfschützerverbands in Sêgirkê. Die Infiltrierungsversuche der Tunnel verliefen bisher ohne Erfolg. Mit anderen Worten: erneut werden Kurden für die Interessen des türkischen Staates ins Feld geführt. Solche Beispiele gibt es nur zu Genüge in der Geschichte der Kurden. Auch werden mit Kameras bestückte Hunde eingesetzt, um in die Tunnelsysteme der Guerilla einzudringen. Der Widerstand ist und bleibt aber ungebrochen, der türkische Staat sitzt fest. Wenn wir nun all diese Punkte berücksichtigen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich die Militäraktivitäten der PDK gegen den Guerillawiderstand am Zendûra richten. Die PDK mag dem widersprechen, faktisch läuft es aber darauf hinaus.
Mich persönlich hat es enttäuscht, dass uns kurdische Kräfte während unseres Kampfes gegen eine türkische Invasion in den Rücken fallen. Ich hoffe, dass die Verantwortlichen der PDK sich dieser Realität bewusst werden. Dieses Verhalten kann keine moralische Haltung ausdrücken. Es widerspricht den Traditionen des kurdischen Volkes. Wir verteidigen uns schließlich gegen einen Krieg. Wenn ihr uns schon nicht beisteht, solltet ihr wenigstens keine neue Front gegen uns eröffnen.
Hulusi Akar fordert Peschmerga-Einbindung in den Krieg
Lassen Sie mich auf eine andere Sache zu sprechen kommen: Wir haben Informationen darüber, dass [der türkische Verteidigungsminister] Hulusi Akar von der PDK-Führung die Einbindung der Peschmerga in diesen Krieg gefordert hat. Am 20. Mai hat es diesbezüglich eine Besprechung von PDK-Verantwortlichen gegeben. Wir wissen nicht genau, was beschlossen worden ist. Das müsste hier ohnehin nicht erwähnt werden. Was ich in jedem Fall preisgeben kann – eigentlich hätte ich dies lieber mit Mesûd Barzanî oder einem anderen Funktionär der PDK besprechen wollen – ist, dass der türkische Staat beziehungsweise Recep Tayyip Erdoğan uns vor ein paar Monaten über eine befreundete Delegation kontaktiert und darum gebeten hat, einen Waffenstillstand innerhalb von Nordkurdistan zu verkünden. Im Gegenzug würde uns in den anderen Teilen Kurdistans freie Hand gewährt. Was heiße das konkret? ‚Verkündet für uns einen Waffenstillstand und kämpft gegen die PDK, mit der ihr ohnehin Probleme habt‘. Der Feind treibt eben seine Spielchen, denen wir unsere volle Aufmerksamkeit widmen müssen. Der türkische Staat hat die Kurden stets gegeneinander ausgespielt, um innerkurdische Konflikte zu provozieren. So ist dieser Staat entstanden und ebenso kann er sich auf diese Weise erhalten.
Die kurdische Geschichte ist übersät mit nicht eingehaltenen Versprechen uns Kurden gegenüber – ob zu Zeiten des Osmanischen Reiches oder der Republik Türkei. Diese Tatsache sollte bei der Gelegenheit nochmals hervorgehoben werden. Man braucht auch gar nicht weit in die Vergangenheit zurückzublicken. 1999 beispielsweise ist Rêber Apo als Ergebnis eines internationalen Komplotts gefangengenommen und an die Türkei ausgeliefert worden. Der türkische Staat freute sich damals darüber, dass die PKK am Ende sei. Als wir den Krieg einstellten, wurde die rote Linie zur Führung Südkurdistans gezogen. Warum? Um keinen Raum für Beziehungen zu reservieren. Wann verschwand diese Linie wieder? Als [der türkische Staat] 2008 in der Zap-Region eine Niederlage erlitten hat. Der Staat erkannte, dass er in Südkurdistan ganz auf sich allein gestellt keinen Erfolg haben wird.
In den 1990er Jahren war es die Hizbullah (in Amed gegründete gewalttätige radikalislamistische Organisation, nicht zu verwechseln mit der libanesischen Hisbollah, ANF), die im Krieg gegen unsere Bewegung auf das Schlachtfeld befördert wurde. Doch nachdem unser Vorsitzender in Gefangenschaft geriet, schalteten sie den Gründer von Hizbullah in Istanbul aus. Das ist die Tradition des türkischen Staates; die eigene Dominanz festigen, indem die Kurden getäuscht und gegeneinander aufgebracht werden. Das ist auch aktuell der Plan. Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft diese Anstrengungen argusäugig beobachtet. Der türkische Staat versucht auf seinem Weg, sich zu einer dominanten Regionalmacht aufzubauen und ihre Strategie zum Erfolg zu führen, die einen Kurden gegen die anderen auszuspielen. Wir erwarten, dass diese Zusammenhänge von allen kurdischen Parteien und der Öffentlichkeit richtig verstanden werden und entsprechend gehandelt wird.
Samstag: Teil 2
*Das Interview wurde am 9. Juni aufgezeichnet