Die irakische Armee zieht weitere Truppenkontingente im ezidischen Kerngebiet Şengal zusammen. Vor allem in den Stützpunkten und Kontrollposten in der Region kommt es seit Montag zu intensiven Truppenkonzentrationen und Rüstungstransporten. Aber auch in den Dörfern Sikêniyê und Heyalê am südwestlichen Fuß des Şengal-Berges sowie im Stadtzentrum und im Grenzgebiet zum Autonomiegebiet von Nord- und Ostsyrien ist die Truppenstärke erhöht worden.
Von der im südkurdischen Silêmanî ansässigen Nachrichtenagentur RojNews veröffentlichte Videoaufnahmen zeigen einen Militärkonvoi mit Panzerfahrzeugen und Haubitzen, der sich von Mossul kommend auf Şengal zubewegt. Offenbar stehen die Truppenkonzentrationen im Zusammenhang mit den seit einer Woche andauernden Spannungen in der Region.
RojNews
Die Zentralregierung in Bagdad versucht schon länger, im Schulterschluss mit der südkurdischen Regionalregierung in Hewlêr (Erbil), die unter dem Eindruck des Genozids der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) 2014 von der ezidischen Gemeinschaft mühsam aufgebauten Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen zu entwaffnen und die Selbstverwaltung aufzulösen. Grundlage ist das über die Köpfe der ezidischen Gemeinschaft hinweg getroffene „Şengal-Abkommen“, das im Oktober 2020 unter türkischer Regie zwischen Bagdad und Hewlêr vereinbart wurde. Der Vertrag besteht aus einer Reihe von sicherheitspolitischen und verwaltungstechnischen Maßnahmen und legt Verantwortlichkeitsbereiche der Behörden fest – zum Nachteil der Ezid:innen. Sie haben kein Mitspracherecht.
Vom Irak provozierte Gefechte
Vor einer Woche mündeten die von irakischen Militärs in Şengal gezielt verursachten Provokationen schließlich in Konfrontationen. Zuvor hatten die Truppen Bagdads versucht, am Eingang zur Gemeinde Digurê einen Kontrollpunkt der „Asayîşa Êzîdxanê“ einzunehmen. Weil die dortigen Sicherheitskräfte sich weigerten, den Checkpoint zu räumen, eröffneten irakische Truppen das Feuer. Bei den daraufhin ausgebrochenen Auseinandersetzungen wurden zwei Zivilist:innen verletzt. Am Dienstag wurden Stellungen der Widerstandseinheiten (YBŞ) und der Fraueneinheiten (YJŞ) Şengals von der irakischen Armee angegriffen. Dabei verlor die YJŞ-Kämpferin Faraşîn Şengalî ihr Leben.
Autonomierat will Widerstand leisten
Der Autonomierat von Şengal erklärte am Sonntag, dass die Regierung in Bagdad durch ihre gegenwärtige Politik versuche, die Selbstverwaltung zur Kapitulation zu zwingen. „Das lehnen wir grundsätzlich ab“, hieß es in einer Erklärung, in der vor einem Krieg gewarnt wurde. Der Rat plädiert weiter für eine Lösung der bestehenden Probleme im Rahmen der irakischen Verfassung. Eine Kapitulation komme nicht in Frage. „Wir hoffen auf eine Lösung, die den freien Willen Şengals berücksichtigt. Sollte die Kadhimi-Regierung uns zusammen mit dem türkischen Staat und der PDK angreifen, werden wir jedoch bis zum Äußersten Widerstand leisten.“
Journalist:innen aus Europa festgenommen
In Şengal waren vergangene Woche zudem zwei westliche Journalist:innen vom irakischen Militär festgenommen worden. Es handelt sich um die Deutsche Marlene F. und den Slowenen Matej K. Beide befinden sich seit Freitag in Bagdad in Gewahrsam irakischer Sicherheitskräfte. Zuvor wurden sie zwei Tage lang in Şengal festgehalten. Angehörige von Marlene F. haben einen Offenen Brief veröffentlicht und fordern Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) darin zum Handeln für die Freilassung beider Medienschaffender auf.