Im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal im Nordirak herrscht weiterhin eine angespannte Atmosphäre. Parallel zu der Invasion der türkischen Armee in den Guerillagebieten in Südkurdistan kommt es seit Anfang der Woche in Şengal zu Spannungen und Auseinandersetzungen, die von der irakischen Armee provoziert werden. Bei einem Angriff auf die selbstverwalteten Sicherheitskräfte in der Region ist eine Kämpferin der als Reaktion auf den IS-Genozid von 2014 gegründeten Frauenwiderstandseinheiten YJŞ ums Leben gekommen. Weitere Menschen wurden verletzt.
Der Demokratische Autonomierat Şengal (MXDŞ) hat nach Beratungen mit Vertreter:innen der ezidischen Sicherheitskräfte (Asayîşa Êzîdxanê), zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Partei PADÊ, der ezidischen Frauenbewegung TAJÊ und der arabischen Bevölkerung sowie mit religiösen Oberhäuptern über die Angriffe auf die Region im Nordirak beraten. Nach der Versammlung wurden die Ergebnisse auf einer Pressekonferenz auf dem Gefallenenfriedhof „Şehîd Berxwedan û Şehîd Dilgeş“ bekannt gegeben. Die Erklärung wurde von Azad Hussein vom Leitungsrat Şengal vorgetragen.
„Wir haben einen Kriegsausbruch verhindert“
In der Erklärung stellt der Autonomierat fest, dass die Türkei in Kollaboration mit dem Barzanî-Clan Operationen durchführt, um die Verteidigungskräfte der Bevölkerung auszuschalten und die Region zu besetzen. Zeitgleich zu der türkischen Invasion in Südkurdistan hätten irakische Militärs im Auftrag der Kadhimi-Regierung Kontrollposten der ezidischen Sicherheitskräfte in Şengal bedrängt. „Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass der Ausbruch eines heftigen Krieges nur durch die Haltung der Autonomieverwaltung und der Verteidigungskräfte Şengals verhindert wurde. Das irakische Militär hat alles versucht, um einen langen und schweren Krieg zu beginnen. Wir haben diesen Krieg nicht zugelassen, weil wir Verantwortung für die Bevölkerung des Irak empfinden“, erklärte Hussein.
Wer würde von einem Krieg in Şengal profitieren?
Der Autonomierat habe sich nach dem Grund für den Angriff gefragt, führte Hussein weiter aus: „Wer will diesen Krieg? Wer würde davon profitieren? Steht der Irak dahinter oder der türkische Staat zusammen mit der PDK? Als Autonomierat von Şengal möchten wir vom irakischen Staat Antworten auf diese Fragen. Die irakische Regierung muss ihre Position erklären.“
Hussein verwies auf den IS-Angriff von 2014 und erklärte, dass der Irak und die PDK damals ihre Streitkräfte kampflos abgezogen haben und die Türkei gemeinsam mit dem IS agierte. Nur die PKK habe Şengal gegen den IS verteidigt. „Die Verteidigung von Şengal ist die Verteidigung von Ninova und die Verteidigung von Ninova bedeutet, den gesamten Irak zu verteidigen. Wir haben während des Massakers sowohl uns selbst als auch die Existenz des Irak verteidigt. Warum also richtet die irakische Armee heute ihre Waffen auf die Menschen in Şengal? Uns ist bekannt, dass das osmanische Schwert immer über unseren Köpfen schwebt und dass die PDK alle unsere Errungenschaften zerstören möchte. Aber will nach dem IS, dem türkischen Staat und der PDK auch die irakische Armee Krieg gegen die Eziden führen? Will auch der irakische Staat Teil des Ferman gegen die ezidische Gemeinschaft sein? Das ist für uns eine Frage von historischer Bedeutung und wir möchten eine Antwort vom Irak“, so Hussein.
„Der IS kam nicht aus Rojava“
Zu dem Versuch der irakischen Regierung, die Verbindung zwischen Şengal und Rojava durch eine Grenzmauer, Stacheldraht und militärische Drohungen zu kappen, erklärte Hussein: „Es ist allgemein bekannt, dass die IS-Banden nicht über die Grenze aus Rojava in Şengal eingefallen sind, sondern aus dem Irak kamen. Über diese Grenze kamen hingegen Hunderte Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG, um uns zu helfen.“ Dass so viele Menschen vor dem Genozid gerettet werden konnten, sei dem freigekämpften Weg über die Grenze zu verdanken. Mit der gegenwärtigen Politik solle die Autonomieverwaltung in Şengal zur Kapitulation gezwungen werden, was diese grundsätzlich ablehne.
„Diese Politik führt zur Spaltung des Irak“, warnte Hussein. Die Türkei bekenne sich offen zu ihren neo-osmanischen Plänen und wolle Ninova einschließlich Şengal und Kerkûk zu einer Provinz der türkischen Republik machen.
Zu einer Lösung im Rahmen der irakischen Verfassung bereit
Der Autonomierat sei sich dieser Pläne bewusst und nach wie vor zu einem Dialog über eine Lösung der Situation von Şengal im Rahmen der irakischen Verfassung bereit. Die Forderungen der ezidischen Gemeinschaft müssten jedoch berücksichtigt werden, so Hussein: „Wir rufen den irakischen Staat auf, sich gegen den Plan des türkischen Staats und der PDK zu stellen. Lasst uns diese Kräfte aus Şengal vertreiben und gemeinsam eine Lösung suchen. Unser Willen kann über Drohungen, Unterdrückung und Angriffe nicht gebrochen werden. Wir haben unser Wort für ein freies und autonomes Şengal gegeben, und daran halten wir fest.“
Sollte es zu einem Krieg kommen, sei die irakische Regierung dafür verantwortlich, betonte Hussein: „Wir hoffen auf eine Lösung, die den freien Willen Şengals berücksichtigt. Sollte die Kadhimi-Regierung uns zusammen mit dem türkischen Staat und der PDK angreifen, werden wir jedoch bis zum Äußersten Widerstand leisten.“
Abschließend rief Hussein die ezidische Gemeinschaft zum Zusammenhalt auf. Insbesondere die Ezid:innen in Europa müssten gegen die Angriffe aktiv werden. Alle Kräfte aus Kurdistan seien aufgefordert, sich gegen die Pläne der Türkei und der PDK zu positionieren und Şengal zu unterstützen. An die internationale Gemeinschaft appellierte Hussein, den besonderen Status von Şengal anzuerkennen und weitere Massaker zu verhindern.