Offener Brief: „Pressefreiheit ist kein Luxus“ - Freiheit für Marlene und Matej

„Pressefreiheit ist kein Luxus. Sie ist eine systemrelevante Errungenschaft“ – Mit diesem Zitat beginnt ein Appell an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, sich für die im Irak festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. einzusetzen.

Im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal sind am vergangenen Mittwoch zwei Journalist:innen durch die  irakische Armee festgenommen worden. Es handelt sich um die Deutsche Marlene F. und den Slowenen Matej K. Angehörige, Freund:innen und Vertreter:innen zahlreicher Organisationen, Parteien und Einzelpersonen, darunter die Bundestagsabgeordnete Cornelia Möhring (Linke), die Hamburger Linke-Vorsitzende Cansu Özdemir und die Marburger Stadtverordnete Lena Frewer (Grüne), appellieren mit einem offenen Brief an die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sich für die Freilassung der beiden Journalist:innen einzusetzen.

Der offene Brief, der unter anderem von den Eltern von Marlene F. initiiert wurde, lautet wie folgt:

Sehr geehrte Frau Außenministerin Annalena Baerbock,

„Pressefreiheit ist kein Luxus. Sie ist eine systemrelevante Errungenschaft“ (Horst Pöttker / APuZ).

Zwei Journalist:innen, deren Arbeit auf dieser systemrelevanten Errungenschaft basiert, wurden am 20. April 2022 von der irakischen Armee ohne Angabe von Gründen an einem Checkpoint im Şengal verhaftet; in demselben Siedlungsgebiet im Irak, das seit dem Genozid an den Ezid:innen durch den sogenannten Islamischen Staat 2014 weltweit bekannt ist.

Wir bitten Sie dringend um Ihren Einsatz für die Freilassung der beiden Journalist:innen, der deutschen Staatsbürgerin Marlene F. und ihres slowenischen Kollegen Matej K. Die beiden Journalist:innen recherchieren seit Monaten über die gesellschaftlichen Verhältnisse der ezidischen Gemeinschaft in Şengal. Dazu gehörte es, Gespräche mit Vertreter:innen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen in der Region zu führen. Beide befanden sich mit drei weiteren Personen auf der Rückreise von einer Feierlichkeit im Rahmen des ezidischen Neujahrsfestes „Çarşema Sor“, als sie an einem Checkpoint der irakischen Armee festgehalten und gegen ihren Willen untersucht wurden, obwohl sie sich umgehend als Journalist:innen zu erkennen gegeben haben.

Marlene F. in Lalîş, wo sich das zentrale Heiligtum der ezidischen Gemeinschaft befindet © privat

Die irakische Armee ist dabei sehr brutal vorgegangen. Private Gegenstände - u.a. Telefone, Rucksäcke - sind konfisziert worden. Marlene F. und Matej K. wurden von der irakischen Armee festgenommen, stundenlang verhört und am Freitag, 22. April 2022 nach Bagdad überführt. Mit großer Sorge lesen wir Meldungen, dass die Festgenommenen bedroht und erniedrigt wurden. Frau Baerbock, wir appellieren an Sie nicht nur als Außenministerin, sondern auch als eine Person, die die Region bereist hat. In einem Spiegel-Artikel von 2019 können wir nachlesen: „Besonders interessiert sie sich für die Jesiden, die Minderheit, vor allem aus dem Sinjar-Gebiet an der Grenze zu Syrien.  ‚Eine Herzensangelegenheit‘, nennt es ihre Sprecherin.“ (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-im-irakbildungsreise-fuer-die-zukuenftige-aussenministerin-a-1274591.html) Matej und Marlene – zwei junge Menschen aus Slowenien und Deutschland interessieren sich genauso für das Schicksal der Ezid:innen und wollen dazu beitragen, dass die Forderung und das Recht der ezidischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung weltweit Gehör finden.

Frau Baerbock, sehr geehrte Staatsminister:innen Keul, Lindner und Lührmann - eine feministische Außenpolitik bedeutet das Einstehen für Werte - und für die Rechte unterdrückter Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen. Im Schatten des Ukrainekrieges greifen sowohl die türkische als auch die irakische Armee immer wieder das Şengal-Gebiet an. Die Verhaftung der beiden Journalist:innen ist eine weitere Eskalation in einem Konflikt, der sich vor allem gegen die Würde der Ezid:innen richtet, der aber uns alle angeht.

Wir setzen auf Ihre Unterstützung und den vollen Einsatz für die Freilassung von Marlene und Matej - auch und vor allem im Sinne einer wertebasierten Außenpolitik. Bitte lassen Sie uns zeitnah wissen, was Sie tun können und werden. Bis dahin verbleiben wir mit freundlichen Grüßen.“

Recherchearbeit in Şengal irakischen Behörden nicht gerne gesehen

Recherchearbeit in Şengal wird von den irakischen Behörden nicht gerne gesehen. Erst recht nicht zur jetzigen Phase, in der die Spannungen zwischen den politischen und militärischen Kräften der Zentralregierung in Bagdad und den ezidischen Selbstverwaltungsstrukturen zu eskalieren drohen. Seit genau einer Woche nimmt die Situation in Şengal eine bedrohliche Wendung. Es kam zu Gefechten infolge von irakischen Angriffen auf Stellungen der Widerstandseinheiten YBŞ, den autonomen Fraueneinheiten YJŞ und dem Asayîşa Êzîdxanê (Sicherheitskräfte der Ezid:innen), wobei die Kämpferin Faraşîn Şengalî tödlich verletzt wurde. Diese Attacken irakischer Truppen in Şengal erfolgen parallel zu der am 17. April gestarteten Invasion der türkischen Armee in der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan). Bagdad versucht schon länger, die unter dem Eindruck des IS-Genozids in Şengal 2014 aufgebauten Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen zu entwaffnen und die Autonomieverwaltung aufzulösen. Grundlage ist das über die Köpfe der ezidischen Gemeinschaft hinweg getroffene „Şengal-Abkommen“, das im Oktober 2020 zwischen der kurdischen Regierung in Hewlêr und der irakischen Zentralregierung getroffen wurde. Weiterhin hat der irakische Staat begonnen eine Mauer zwischen Şengal und Rojava zu bauen, wogegen die ezidische Gemeinschaft sich wehrt, da Rojava im August 2014 beim Angriff des IS auf Şengal die einzige Rückzugsmöglichkeit war.

„Es geht ja nicht nur um Marlene“

Vor Ort deutet man die Festnahme von Marlene F. und Matej K. als einen Versuch, mögliche internationale Zeug:innen der Auseinandersetzungen zu verschrecken. Lydia F., die Mutter der deutschen Journalistin, zeigte sich gegenüber ANF äußerst besorgt, da sie bisher keinen Kontakt zu ihrer Tochter aufnehmen konnte. Sie stehe in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt in Berlin und der deutschen Botschaft in Bagdad, und werde sich auch mit den Eltern von Matej K. in Verbindung setzen. Ein Anwalt aus Marburg sei ebenfalls eingeschaltet worden.

„Es geht ja nicht nur um Marlene, sondern auch um die Situation der Ezid:innen in Şengal, das ist ja auch Marlenes Anliegen. Ich weiß meine Tochter ist stark, aber ich habe doch große Angst“, so F. Die zuständige Botschaft habe ihr mitgeteilt, sich bei ihr zu melden, sobald sie etwas Genaueres wüsste.