Hêvî bedeutet Hoffnung

Menschen mit Behinderungen sind nicht krank, sondern anders. Im Rehabilitationszentrum „Navenda Hêvî” in Camp Mexmûr werden Kinder mit besonderen Bedürfnissen gefördert. Unterstützt werden sie von der Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan.

Vergangenes Jahr wurde im selbstverwalteten Flüchtlingscamp Mexmûr in Südkurdistan das Rehabilitationszentrum „Navenda Hêvî” (Zentrum der Hoffnung) gegründet. Die Bielefelder „Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan e.V.“ unterstützt das Projekt. Die Initiative setzt sich aus Ehrenamtlichen verschiedener Nationen zusammen. Trotz der kleinen Zahl der Aktiven schaffen sie Großes. So wurden Familien unterstützt, deren Häuser während der militärischen Belagerung nordkurdischer Städte 2015 und 2016 zerstört worden sind. Die Initiative arbeitet unterstützend an der Umsetzung des Partnerschaftsprojekts Kobanê-Herford und versucht mit dem Projekt „Partnerfamilien“ die Partnerschaft zwischen Familien in Europa und Rojava zu stärken. Zudem ist die Initiative federführend bei der Gründung des „Hêvî-Zentrums“ gewesen, ein Zentrum im südkurdischen Flüchtlingslager Mexmûr, in der Kinder mit Behinderungen Unterstützung bekommen. Mitglieder der Initiative waren im Oktober in Mexmûr, um vor Ort die Aktivitäten im Hêvî-Zentrum zu sehen. Erst nach intensiven diplomatischen Bemühungen wurde ihnen von den südkurdischen Behörden die Fahrt in das Camp genehmigt.

Das selbstverwaltete Camp, das etwa 60 Kilometer südwestlich der Hauptstadt der Autonomieregion Kurdistan liegt, steht seit Juli unter einer Blockade. Die Verantwortlichen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Regierungspartei der kurdischen Autonomieregion, hatten die Ermordung des türkischen Geheimdienstverantwortlichen Osman Köse am 17. Juli in Hewlêr zum Vorwand genommen, um gegen das Lager ein umfassendes Embargo zu verhängen.

Murat Mang hat für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika mit Emine Gözen, der Vorsitzenden der Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan e.V., über das Projekt „Hêvî“ und ihre Reise nach Südkurdistan gesprochen.

Wie hat sich die Idee zur Gründung des Hêvî-Zentrums entwickelt? Wer führt diese Arbeit an?

Ihr wisst ja, dass sich angeführt von den Kurden ein neuer Aufbauprozess auf demokratischer Grundlage im Mittleren Osten entwickelt. Die Beteiligung aller Farben der Gesellschaft und ihre Vertretung sind ein Bestandteil dieses Aufbauprozesses. Aus diesem Grund ist innerhalb des Volksrates von Mexmûr und der entsprechenden Institutionsverantwortlichen eine Diskussion über die Vertretung des Teils der Gesellschaft entstanden, die einer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen. So ist die Entscheidung für die Umsetzung dieses Projekts gefallen ist. Wir als Initiative wurden daraufhin angefragt, ob wir dieses Projekt unterstützen könnten. Nach Gesprächen haben wir dann entschieden, Verantwortung dafür zu tragen, den von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen mit Behinderungen in dieser Zeit des Aufbaus dazu zu verhelfen, wieder gesehen zu werden.

Wann und wie ist dann das Hêvî-Zentrum gegründet worden?

Das Zentrum ist nach einer gemeinsamen Vorbereitung des Gesundheitskomitees und des Rates in Maxmur Anfang 2018 gegründet worden. Es ist ein auf der Grundlage der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 2006 über die Rechte von Personen mit Behinderungen geplantes Projekt, um die gehandicapten Kinder und ihre Familien anzuregen. Aufgrund der unzureichenden Integrationsmöglichkeiten werden die Möglichkeiten für die Kinder und Jugendlichen, die bisher noch nicht in das Schulsystem und im gesellschaftlichem System integriert waren, in sozialen, kulturellen und schulischen Bereichen erweitert und damit zusätzlich auch die gesellschaftlichen Vorurteile aufgebrochen.

Unser weiteres Ziel ist es, die Mütter zu entlasten. Mexmûr hat mit diesem Projekt trotz mangelnder finanzieller Möglichkeiten einen Meilenstein gesetzt. Das Projekt hat die Aufgabe übernommen, die Familien und die gesamte Gesellschaft zu informieren und Unbenanntes sichtbar zu machen. Derzeit gibt es dreißig Aufnahmeanfragen. Leider haben wir nicht die Möglichkeit, alle aufzunehmen. Einer der Hauptgründe dafür ist unser unzureichendes Arbeitsgebäude. Bisher ist das Projekt mit Hilfe der großen Hingabe und der hohen Motivation der dortigen neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geführt worden. Neben den Psychologen gibt es dort Sozialbetreuer und Pädagogen.

Warum haben Sie ausgerechnet Mexmûr ausgewählt?

Mitte der 1990er Jahre wurden Tausende Kurden durch den Krieg vertrieben und ließen sich nach einer sehr schwierigen Zeit 1998 in Mexmûr nieder. Das Camp befindet sich im Dreieck zwischen Ninova, Kerkûk und Hewlêr. Heute leben dort fast 13.000 Menschen. Obwohl es von den UN offiziell als Flüchtlingslager anerkannt ist, hat es rechtlich keinen Nutzen aus diesem Status. Der Grund für unsere Zusammenarbeit mit dem Hêvî-Zentrum ist die Verbesserung der Lebensumstände im Lager. Dort wird versucht, eine demokratische, ökologische und pluralistische Verwaltung auf der Basis der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern aufzubauen. Und genau dieser Punkt war für uns für eine Zusammenarbeit ausschlaggebend, da wir als Institution an das Konzept glauben, dass der Frieden im Mittleren Osten nur auf einer pluralistisch gleichberechtigten Grundlage sichergestellt werden kann. Zudem ist unser Ziel die Unterstützung humanistischer und sozialer Projekte. Diese beiden Gründe sind die Quellen unserer Motivation.

Vor kurzem waren Sie mit einer Delegation im Hêvî-Zentrum, um die Arbeit aus nächster Nähe zu beobachten. Können Sie von dieser Reise berichten? Was hat Sie dort erwartet?

Wir hatten bereits als Initiative für den Oktober eine Reise nach Mexmûr geplant. Einer unserer Gründe war die Fortführung des Konzeptes. Aber dass wir dann mit einer Delegation dorthin gereist sind, war eigentlich nicht geplant. Es hat sich zufällig ergeben. Die in Frankfurt ansässige „Kurdistan Hilfe“ hatte die Delegation organisiert. Sie setzte sich zusammen aus Parlamentariern, Akademikern, Pädagogen, Künstlern, Fotografen und Kommunalpolitikern, die eigentlich Şengal besuchen wollten. Ihr Ziel war es, sich über die dortige Arbeit im Gesundheitsbereich und humanitäre Projekte zu informieren. Leider war trotz aller Bemühungen die Reise nach Şengal nicht möglich. Als wir dann in den Medien von den Folgen des Embargos für den medizinischen Bereich erfahren haben, haben wir uns dazu entschieden, zur Untersuchung dieser Rechtsverletzungen vor Ort nach Mexmûr zu reisen und uns hierüber zu informieren.

Unsere Fahrt dorthin wurde von der PDK ohne irgendeine Begründung verhindert. Dass eine 20-köpfige deutsche Gruppe nicht einmal nach Mexmûr hineingelassen wurde, zeigte uns bereits den Grad des Embargos. Nach intensiven diplomatischen Bemühungen durften wir dann hinfahren. Meiner Meinung nach ist das, was die Menschen dort erleben, weit mehr als „Sanktionen“. Wir haben gesehen, dass die medizinischen Probleme am gravierendsten sind. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass der Lebensraum von 13.000 Menschen aus unverständlichen Gründen zu einem Gefängnis gemacht worden ist.

Wie stehen die Menschen zum Hêvî-Zentrum und welche Reaktionen haben Sie erlebt?

Wir haben gesehen, dass die Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen im Hêvî-Zentrum die Gesellschaft bewegt haben. Sicherlich geht dieser Wandel nicht in dem Tempo voran, wie wir uns das wünschen, es motiviert uns aber dennoch. Hêvî arbeitet nicht nur mit Kindern und Jugendlichen, sondern hat auch zum Ziel, die Familien zu informieren. Anstelle der anfänglichen Unklarheiten wächst die gesellschaftliche Zustimmung. Ich kann wohl davon sprechen, dass die Bevölkerung von Mexmûr sich das Projekt zu eigen gemacht hat und von der Notwendigkeit überzeugt ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Überwindung eines gesellschaftlichen Tabus bereits eine große Entwicklung ist.

Gibt es außer dem Hêvî-Zentrum noch weitere Projekte, die Sie gerne umsetzen wollen?

Ich möchte, bevor wir über andere Projekte sprechen, darauf hinweisen, dass das Hêvî-Zentrum die geltenden internationalen Kinderrechtskonventionen anerkannt und unterschrieben hat. Dies ist in diesem Bereich einzigartig. Leider stehen wir aber einigen Problemen gegenüber, die hauptsächlich finanzieller Natur sind. Die Zentralregierung im Irak und die Regionalregierung in Hewlêr haben trotz ihrer Ratifizierung dieser UN-Konventionen bisher nicht auf die Anfragen der hilfebedürftigen Menschen geantwortet. Diese Kinder und Jugendlichen, die eine besondere Ausbildung und Hilfe benötigen, sind ebenfalls Opfer des Embargos und der derzeitigen Politik. Trotz aller Widrigkeiten ist ein weiteres unserer Projekte das „Patenkindprojekt“, mit dem wir ein soziales Netz zu den Kindern und den Familien in Mexmûr spannen wollen. Auch von hier aus möchten wir uns an alle interessierten Leser und Leserinnen wenden und bitten darum, mit uns diesbezüglich Kontakt aufzunehmen.

Ein weiteres Projekt betrifft das Gebäude, das wir derzeit nutzen. Es ist für die Bedürfnisse der Kinder nicht ausreichend. Wir müssen das Gebäude erweitern und haben hierfür eine Spendenkampagne gestartet.

Außerdem haben wir im Dezember das Projekt „Ein Geschenkpaket für jedes Kind“ gestartet. Dies ist eine Hilfskampagne für bedürftige Kinder. Bei diesem Projekt geht es darum, mit kleinen Geschenken, wie beispielsweise Schulmaterialien, eher symbolisch Solidarität mit und unter den Kindern zu schaffen.

Gibt es andere Institutionen, oder wird es welche geben, die gemeinsam mit Ihnen an diesen Projekten arbeiten?    

Zu Beginn des Projektes ging es hauptsächlich um finanzielle Hilfe. Es zeigte sich aber im Laufe der Zeit, dass es nicht nur finanziell, sondern auch praktisch unterstützt werden muss. Dies haben wir mit den vor Ort zuständigen Mitgliedern des Volksrats besprochen. Sie haben unseren Vorschlag sehr gut aufgenommen. Wir setzen das Projekt um, indem wir selbst dahin gehen, vor Ort begleiten und mit den dortigen Mitarbeitern gemeinsam umsetzen. Es ist sozusagen ein Pilotprojekt. Wenn dieses Konzept sowohl praktisch als auch theoretisch gut läuft, dann möchten wir mit den Verantwortlichen in Rojava in Kontakt treten und dieses Projekt weiter entwickeln und verbreiten. Zuletzt haben wir seit Dezember 2018 eine Spielzeugkampagne. Es geht bei diesem Projekt um die Entstehung einer grenzübergreifenden Empathie.

Wenn man sich die Gründung von Einrichtungen wie dem Hêvî-Zentrum anschaut, sieht man, dass Probleme wie Krieg, soziale Erfordernisse, Unmöglichkeiten und gesetzliche Unsicherheiten Hauptgründe dafür sind. Wie fassen Sie die Notwendigkeit solcher Einrichtungen zusammen?

Ich möchte vor allem betonen, dass diese Menschen nicht krank, sondern nur anders sind. Sie wissen sicher, dass das Wort „behindert“ in allen Sprachen negativ belastet ist. Das ist in Kurdistan nicht anders. Schon die negative Belastung dieses Wortes ist für sich selbst ein Problem. In unserer Region sind diese Menschen nicht nur als „fehlend“ und „nicht funktionierend“ definiert, sondern sie haben auch keinerlei gesetzliche Sicherheiten. Diese Gruppe hat innerhalb der Gesellschaft keinerlei positive Position. Der Krieg und die Rechtsverletzungen beeinträchtigen diese Menschen und ihre Familien noch zusätzlich.

Ich möchte jedoch nicht, dass meine Worte den Anschein erwecken, in Europa gäbe es diese Probleme nicht. Europa mag gegenüber dem Mittleren Osten rechtlich besser gestellt sein, aber eine Integration in die Gesellschaft findet trotzdem nicht statt. Daher ist das Hêvî-Zentrum geradezu ein Pilotprojekt und für alle Institutionen von enormer Wichtigkeit. Wir möchten, dass diese Menschen unter uns sind und gesehen werden.

Was möchten Sie den Unterstützern in Europa sagen, was können sie tun? Und an wen können sie sich wenden?

Ich bin mir sicher, dass wir von hier aus sehr viel machen können. Vor allem müssen wir von hier aus das Projekt aufrecht halten. Hierfür ist es ausreichend, mit uns in Kontakt zu treten. Für eine tolerantere und bessere Gesellschaft sind solche Projekte sehr wichtig.

Und ich möchte unterstreichen, dass gerade jetzt Mexmûr sich nicht selbst überlassen werden sollte. Dass das Camp ständig im Visier ist, liegt daran, dass neben der historischen Entwicklung versucht wird, dort ein Konzept des Lebens in Freiheit und Gleichberechtigung aufzubauen. Und genau aus diesem Grund wird es nicht nur zur Zielscheibe der Türkei, sondern aller autoritären Kreise im Mittleren Osten.

Stellen Sie sich doch mal vor! Wir sind mit einem realitätsfremden System konfrontiert, das fast 13.000 Menschen zu Terroristen erklärt. Ich war bereits vor dieser Reise bereits einmal für das Projekt drei Wochen dort. Ich habe es selbst erlebt und gesehen, dass dort für die Menschen eine kleine Heimat entstanden ist. Sie können nicht so einfach 13.000 Menschen, die sich dort ihren Alltag und ihr gesellschaftliches System aufgebaut haben, herausholen. Auch wenn es praktisch nicht existent ist, so sprechen wir doch hier von einem Ort, der unter dem Schutz der Vereinten Nationen steht. Aus diesem Grund glaube ich auch nicht daran, dass dieses Projekt nicht funktioniert. Und wir als Institution werden diesem Projekt unsere Unterstützung niemals entziehen.

Wer uns unterstützen möchte, kann sich über unsere Homepage informieren.

Spendenkonto: Sparkasse Bielefeld, IBAN:  DE53 4805 0161 0025 4829 77, BIC: SPBIDE3BXXX