Die vor zwei Wochen gestartete Invasion der türkischen Armee im Guerillagebiet in Südkurdistan dauert mit unverminderter Intensität an. Die Armee greift aus der Luft und am Boden mit modernster Waffentechnologie an und setzt chemische Kampfstoffe gegen die Guerilla ein. Serbilind Dersim ist seit vielen Jahren Guerillaarzt und hat sich gegenüber ANF zu der Invasion und den Kriegsverbrechen der türkischen Armee geäußert.
Dersim hält zunächst fest, dass die AKP/MHP-Regierung ihre Existenz von dem Genozid am kurdischen Volk abhängig macht. Der Guerillaarzt erinnert an die Besatzungsoperation, die am 23. April vergangenen Jahres eingeleitet wurde. Als die Operation aufgrund des Widerstands der Guerilla ins Stocken geriet, habe die Armee bereits damals zu Methoden gegriffen, die weltweit als Kriegsverbrechen gelten: „Es wurden verbotene Chemiewaffen eingesetzt.“
Die Kämpferinnen und Kämpfer in den „Kriegstunneln“ - so nennt die Guerilla ihre unterirdischen Verteidigungsanlagen – hätten mit der Zeit auch die Chemiewaffenangriffe scheitern lassen: „An dieser Stelle muss gesagt werden, dass der Feind anfangs gewisse Resultate damit erzielt hat. In der späteren Zeit haben unsere Freundinnen und Freunde ihre Schutzmaßnahmen verstärkt und damit weitere Ergebnisse verhindert. Aus diesem Grund musste sich der türkische Staat zurückziehen.“
In diesem Frühjahr habe die Türkei erneut die Medya-Verteidigungsgebiete angegriffen, fährt Dersim fort: „Der türkische Staat setzt jede denkbare Waffentechnologie ein. Mit Dutzenden Kampfjets, Hubschraubern und Haubitzen findet eine Dauerbombardierung statt. Drohnen sind 24 Stunden am Tag im Einsatz. Die neu strukturierte Guerilla war jedoch vorbereitet und hat den Feind mit neuen Taktiken empfangen, die ihn in einen Schockzustand versetzt haben. Die Armee hat innerhalb kurzer Zeit 200 Verluste gehabt. Daraufhin hat der türkische Staat begriffen, dass er auf diesem Weg nicht weiterkommt, und erneut chemische Kampfstoffe eingesetzt.“
Dersim sagt, dass die Guerilla im vergangenen Jahr Erfahrungen gesammelt hat und sich zu schützen weiß. Er weist auf die Genfer Konventionen und das Verbot von Chemiewaffen hin und erklärt: „Es gibt eine Organisation, die für die Umsetzung dieses Verbots sorgen soll. Trotzdem haben die Hegemonialmächte ständig weiter Chemiewaffen eingesetzt. Auch der türkische Staat nutzt heute wieder chemische Kampfmittel gegen uns, aber damit wird er den Krieg nicht gewinnen. Die Kurden sind im letzten Jahr nicht zum ersten Mal mit chemischen Waffen angegriffen worden. Die Engländer haben 1920 Chemiewaffen gegen Şêx Mahmut Berzenci eingesetzt, die Türken 1937/1938 in Dersim, Saddam 1988 in Helebce. Gegen unsere Bewegung werden seit den 1990er Jahren immer wieder Chemiewaffen benutzt.“
Unter Chemiewaffen seien alle Kampfmittel zu verstehen, die im Gegensatz zu konventionellen Waffen eine chemische Wirkung auf Mensch und Tier haben, sagt der Guerillaarzt. Dabei gehe es nicht nur um tödliche Folgen, sondern auch um vorübergehende Auswirkungen wie Lähmungserscheinungen, Ohnmacht, Taubheit und die Beeinträchtigung der Sehkraft. „Auch Pfeffergas ist eine chemische Waffe und im Militärbereich verboten. Die türkische Armee verfügt über CS-Granaten, die gegen internationale Abkommen verstoßen. Pfeffergas wird sehr massiv in den Kriegstunneln, also in geschlossenen Bereichen, eingesetzt. Das führt langfristig zu Gesundheitsproblemen und kann sogar tödliche Auswirkungen haben. Deshalb darf man nicht darüber hinwegsehen. Beispielsweise kommt es in den Städten im Winter immer wieder zu Toten durch Gasöfen, also durch eine Kohlenstoffmonoxidintoxikation. Dabei handelt es sich nicht um eine Chemiewaffe, aber wenn man Kohlenstoffmonoxid verkapselt und in eine Waffe verwandelt, um Menschen zu töten, dann ist es eine Chemiewaffe. Das gleiche gilt für Pfeffergas, das mit großen Mörsergranaten gegen die Guerilla eingesetzt wird.
Im letzten Jahr ist außerdem der weltweit geächtete Kampfstoff Grünkreuz verwendet worden. Von allem haben wir Aufnahmen und Beweismittel. Wir rufen die internationale Gemeinschaft zum Handeln gegen die Türkei auf. Heute beschuldigt die NATO Russland für den Einsatz von Chemiewaffen in der Ukraine, aber der Einsatz gegen Kurden und insbesondere gegen unsere Bewegung wird ignoriert. Das ist scheinheilig. Die NATO setzt über die Türkei Chemiewaffen gegen die kurdische Bewegung ein.“
Im vergangenen Jahr seien verschiedene Delegationen nach Südkurdistan gekommen, um die Chemiewaffenvorwürfe zu untersuchen. Das sei von der PDK unterbunden worden, sagt Dersim: „Heute wiederholen wir unseren Aufruf an internationale Organisationen, die Chemiewaffeneinsätze durch die Türkei in Kurdistan zu untersuchen. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Einrichtungen, Ärztinnen und Ärzte, also für alle, die sich mit solchen Fällen beschäftigen. Sie sollen vor Ort den Einsatz von chemischen Waffen untersuchen und auf internationaler Ebene dafür sorgen, dass dem türkischen Staat Einhalt geboten wird.
Die faschistische AKP/MHP-Regierung stagniert und will vor den Wahlen im Jahr 2023 militärische Erfolge erzielen. Die Freiheitsguerilla Kurdistans lässt dem türkischen Militär jedoch keine ruhige Minute. Die Armee bekommt einen Schlag nach dem anderen verpasst. Es sollte allen klar sein, dass die PKK eine unbesiegbare Bewegung ist.“