Der seit nunmehr zwei Wochen andauernde Angriffskrieg des türkischen Staates gegen Südkurdistan bleibt für Ankara folgenlos; der Westen hat bisher keine Einwände erhoben. Zagros Hîwa, Sprecher der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), dem Dachverband der kurdischen Bewegung, sieht in der ignorierten Invasion eine Legitimierung der neo-osmanischen Ambitionen der Türkei durch die NATO.
Derzeit beherrscht der Krieg in der Ukraine international die Schlagzeilen. Gleichzeitig dauert der Krieg in Kurdistan an und hat sich in letzter Zeit sogar noch verschärft. Wie bewerten Sie diese Situation?
Es stimmt, dass der russische Angriff auf die Ukraine in den letzten zwei Monaten die internationalen Schlagzeilen bestimmt hat. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, Tausende von Menschen wurden getötet oder verletzt, Millionen wurden vertrieben und die gesamte Infrastruktur eines der wichtigsten Wirtschaftszentren der Welt wurde vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit zerstört. Die USA, Europa und die NATO haben alle ihre wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen und militärischen Ressourcen mobilisiert, um sicherzustellen, dass dieser Krieg verlängert wird, ihre Interessen gewahrt bleiben und Russland eingedämmt und besiegt wird. Dies ist ein von der NATO provozierter Krieg. In diesem Sinne ist es ein Krieg zwischen der NATO und Russland als zwei der Großmächte der kapitalistischen Moderne. Leider zahlen die Völker Russlands, der Ukraine und des größeren Kaukasus den Preis für einen Krieg, den sie nie wollten.
Zur gleichen Zeit wird in einem Gebiet unweit der Ukraine ein weiterer Krieg geführt. Auch dieser Krieg wird von der NATO provoziert und unterstützt. Aber sie tun alles in ihrer Macht Stehende, um ihn zu legitimieren und dafür zu sorgen, dass niemand etwas von diesem Krieg erfährt. Die Menge an Waffen und Munition, die in diesem Krieg eingesetzt wird, ist nicht geringer als in der Ukraine. Der Luftraum beider Länder wird täglich, ja sogar stündlich, verletzt. Jeden Tag gibt es ununterbrochen Luftangriffe, Drohnenangriffe, Artilleriebeschuss und Hubschrauberangriffe. Tausende von Truppen eines NATO-Mitgliedsstaates sind in zwei Länder eingedrungen und arbeiten mit den reaktionärsten und berüchtigtsten terroristischen Gruppen der Welt zusammen. Der Krieg, über den wir hier sprechen, ist die Invasion der Türkei in kurdisches Gebiet im Irak und in Syrien.
Vertreter der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten sagen, dass sie Demokratie und Freiheit in der Ukraine verteidigen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Die NATO versucht, sich als Verteidigerin des ukrainischen Volkes und als Unterstützerin der territorialen Integrität und Souveränität des ukrainischen Staates darzustellen. Aber sie verschließt die Augen, wenn eines ihrer Mitglieder den Völkern im Irak und in Syrien, insbesondere dem kurdischen Volk, großes Leid zufügt, entweder durch die Unterstützung von Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat und der Al-Nusra-Front – die jetzt als türkische FSA [gehört zu dem von der Türkei kontrollierten Invasionskorps „Syrische Nationale Armee“ (SNA)] und HTS neu organisiert ist – oder durch die direkte Besetzung großer Landstriche und die Vertreibung der ältesten Völker dieser Regionen aus ihren angestammten Gebieten. Es ist allgemein bekannt, dass die Türkei in den annektierten Gebieten einen demografischen Wandel herbeiführt.
Am 17. April startete die Türkei neue und massive Angriffe auf die südkurdischen Regionen Zap und Avaşîn. Ist dieser Krieg nur auf diese Gebiete beschränkt?
Der türkische Präsident Erdogan verfolgt im Nahen Osten eine irredentistische Politik mit neoosmanischen Ansätzen. Während wir uns dem hundertsten Jahrestag des Vertrags von Lausanne nähern, träumt Erdogan davon, die syrische Region Aleppo und die irakische Provinz Mosul zu annektieren und in sein Kalifat einzuverleiben. Er ist bereits in weite Teile der Region Aleppo und in Gebiete eingedrungen, die zu den mehrheitlich kurdisch besiedelten Regionen Syriens, also Rojava, gehören. Die Türkei hält nicht nur Efrîn, Azaz, Bab, Cerablus, Serêkaniyê und Girê Spî besetzt, sondern greift täglich weitere Gebiete in Rojava mit Drohnen und Artilleriebeschuss an.
Im Irak hat die Türkei versucht, in das ehemalige Gebiet des Vilâyet Mosul [territoriale Verwaltungseinheit im Osmanischen Reich] einzudringen. Es handelt sich um ein großes Gebiet, das die gesamte Region Südkurdistan einschließlich Mosul, Kerkûk, Hewlêr, Silêmanî, Dihok und Helebce umfasst. Erstmals unternahm die Türkei diesen Versuch mit Hilfe des IS, als dieser Mosul, Şengal und weitere Teile der Region überrannte. Beim IS-Angriff auf Mosul zog die Türkei ihre Konsulatsmitarbeiter nicht von dort ab, sondern wies sie an, vor Ort zu bleiben, als Teil einer symbolischen Anstrengung, den IS anzuerkennen. Die Türkei ermutigte den IS auch, andere Gebiete in Südkurdistan anzugreifen. Als dieser Plan dank des Widerstands der PKK-Guerilla und der von der internationalen Koalition unterstützten Peschmerga Südkurdistans scheiterte, begann die Türkei, direkt in das alte Vilâyet Mosul einzumarschieren. Seit 2019 führt die Türkei umfangreiche grenzüberschreitende Operationen auf dem Gebiet Südkurdistans durch und hat mehr als 70 Militärposten tief im irakischen Territorium errichtet. Die PDK [Demokratische Partei Kurdistans] und der Barzanî-Clan kollaborieren bei diesem Invasionsplan mit der Türkei, so wie sie 2014 mit dem IS kollaboriert haben, was zu einem Völkermord an den Ezidinnen und Eziden führte.
Wie schwer sind die Kämpfe zwischen der türkischen Armee und den Guerillakräften HPG und YJA STAR bisher verlaufen?
Seit dem 17. April führt die Türkei eine neue Angriffswelle gegen Südkurdistan im nördlichen Irak durch. Die ersten Ziele dieser Angriffe waren bisher die Regionen Zap und Avaşîn, dort befindet sich die Guerilla der PKK. Die Türkei greift die PKK an, weil sie in der Freiheitsbewegung Kurdistans das Haupthindernis für die neo-osmanischen Ambitionen Erdogans sieht. Neben Zap und Avaşîn sind auch Metîna und Heftanîn von der türkischen Armee massiv angegriffen worden. In den letzten zwei Wochen verzeichneten wir mehr als 300 Luftschläge. Tausende von Artillerieangriffen haben seitdem stattgefunden, dazu kommen Drohneneinsätze rund um die Uhr und massive Truppenkonzentrationen. Es handelt sich um einen totalen Krieg, den der türkische Kriegsminister Hulusi Akar als „die umfangreichste Militäroperation in der Geschichte der türkischen Republik“ bezeichnet hat. Da die Türkei fast 250 Verluste erlitten hat und den Widerstand der Guerilla nicht brechen konnte, hat sie begonnen, Giftgas und chemische Waffen gegen die Stellungen der Guerilla einzusetzen. Erdogan steht in der Tradition von Saddam Hussein und ist damit ein weiterer Diktator, der chemische Waffen gegen die Kurdinnen und Kurden einsetzt.
Führt die Türkei diese Angriffe allein durch oder erhält sie Unterstützung von anderen Kräften?
Leider benutzen einige Politiker und Beamte des Irak die irakische Armee als Kanonenfutter für Erdogans Kriegsmaschine. In Abstimmung mit Erdogans Angriffen auf die Regionen Zap, Metîna und Avaşîn begann die irakische Armee mit Attacken gegen Stellungen der Verteidigungseinheiten von Şengal, der YBŞ und YJŞ, aber auch der lokalen inneren Sicherheitskräfte Asayîş. Die irakische Armee will erreichen, was Erdogan und dem IS seit 2014 nicht gelungen ist, nämlich das ezidische Volk in die Unterwerfung zu zwingen und ihm das Recht auf Selbstverwaltung und Selbstverteidigung als eine Gemeinschaft, die seit jeher von radikalen Islamisten und Diktatoren existenziell bedroht wird und bisher 74 Massaker erlitten hat, zu nehmen. Man fragt sich, wie die Behörden eines Staates Angriffe gegen die eigene Bevölkerung inszenieren können, um den Diktator eines Nachbarstaates zu besänftigen. Nur dieser eine Fall zeigt, dass es im Irak keinen Staat und keine staatliche Autorität mehr gibt. Der irakische Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi und dessen Amtskollege in der Kurdistan-Region Irak, Mesrûr Barzanî, haben die irakischen Soldaten und Peschmerga-Kräfte als Kanonenfutter für Erdogans Armee freigegeben.
Es scheint, dass die Angriffe auf Südkurdistan, von Zap über Avaşîn bis Şengal, das Ergebnis einer geheimen Vereinbarung zwischen Erdogan, Kadhimi und Barzanî sind. Dass sich letzterer nur Stunden vor der türkischen Invasion in Istanbul mit Erdogan traf, war wenig überraschend. Die PDK und die Barzanîs kollaborieren mit Erdogan bei dessen Invasionsplänen in Südkurdistan. Sie versorgen die Armee des Sultans mit wichtigen Informationen über Positionen der Guerilla, gewähren dem türkischen Militär freie Hand, überall in Kurdistan einzumarschieren und legitimieren den Angriffskrieg durch die Verbreitung falscher Propaganda über die Freiheitsbewegung Kurdistans.
Sie haben vorhin davon gesprochen, dass die Türkei für ihren Krieg in Südkurdistan Beistand von der NATO erhält. Wie begründen die NATO und ihre Mitgliedsstaaten ihre Unterstützung für diesen Krieg?
Die NATO misst in diesem Spiel mit zweierlei Maß. Ein Bündnis, das behauptet, gegen die russische Invasion in der Ukraine zu sein, unterstützt gleichzeitig die Invasionspläne des türkischen Präsidenten Erdogan gegen den Irak und Syrien. Es wird von „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei gesprochen, die anerkannt werden. Tatsache ist, dass diese Interessen weder legitim sind, noch im entferntesten etwas mit Sicherheit zu tun haben. In Wirklichkeit unterstützt die NATO die illegitimen neo-osmanischen Ambitionen der Türkei.
Ein weiteres Argument, auf das die NATO und die USA zur Rechtfertigung der türkischen Invasion in Irak und Syrien zurückgreifen, ist die willkürlich erstellte „Terrorliste“. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Doppelmoral, die die USA und die NATO an den Tag legen. Während die Freiheitsbewegung Kurdistans an der Spitze des Kampfes gegen den IS-Terror stand und immer noch steht, unterstützt die Türkei diese Terrorgruppe weiterhin in vielen Gebieten im Nahen Osten. Wie kommt es also, dass die USA, die EU und die NATO die PKK als Terrororganisation bezeichnen, während sie ihr Bündnis mit der Türkei, dem wichtigsten Förderer des IS, weiter festigen?
Möchten Sie noch etwas hinzufügen?
Die Dinge, über die ich vorhin gesprochen habe, sind die harten Fakten, die wir aus dem Freiheitskampf in Kurdistan lernen können. Dieser Kampf enthüllt die Wahrheit über die wahren Absichten und die Politik der regionalen und internationalen Mächte. In der Region findet ein Dritter Weltkrieg statt, und die Völker des Nahen Ostens zahlen ebenso wie die Völker der Ukraine und Russlands den Preis für diesen Krieg. All diese Kriege werden erst dann aufhören, wenn die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, sich solidarisch zeigen und Selbstverwaltungsstrukturen aufbauen, die auf Selbstverteidigung basieren.