Der kurdische Politiker Keskin Bayındır muss sich ab dem 22. März vor einem Gericht verantworten. Dem Ko-Vorsitzende der Partei der demokratischen Regionen (DBP) wird die „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ – gemeint ist die PKK – vorgeworfen. In der am Freitag von einem Schwurgericht in Amed (tr. Diyarbakır) angenommenen Anklageschrift plädiert die Staatsanwaltschaft für eine Bestrafung nach Artikel 314/1 des türkischen Strafgesetzbuches. Sollte Bayındır verurteilt werden, drohen ihm bis zu fünfzehn Jahre Gefängnis.
Keskin Bayındır befindet sich seit Dezember in Amed in Untersuchungshaft. Der Einblick in die Anklageschrift gegen den 1984 in Sason geborenen Politiker zeigt: Mit Bayındır steht demnächst wieder ein Vertreter und Verfechter der Interessen der kurdischen Bevölkerung vor Gericht, der vom türkischen Staat und seiner Justiz systematisch an seiner Arbeit gehindert wird. Das Klagepapier wirkt wie ein im Copy-Paste-Verfahren kümmerlich zusammengebasteltes Konstrukt voller Widersprüche. Harte Beweise sucht man auf hunderten von Seiten vergeblich.
Die Festnahme des DBP-Vorsitzenden Keskin Bayındır am 23. Dezember 2022 in Amed
Vorwürfe, Spekulationen und Mutmaßungen, aber keine wirklichen Beweise
„Die Generalstaatsanwaltschaft stützt sich auf Vorwürfe, Spekulationen und Mutmaßungen in ihrer Anklageschrift. Sie hat keine wirklichen Beweise und die Anschuldigungen richten sich in erster Linie gegen die DBP“, sagt die Verteidigung von Bayındır. Die meisten „Indizien” beziehen sich auf Aussagen von fünf vermeintlichen Zeugen, von denen lediglich zwei namentlich bekannt sind. Einer davon hätte angegeben, dass die DBP als Schwesterpartei der von einem Verbot bedrohten HDP für das „Ziel“ der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (kurz KCK – Dachverband der kurdischen Befreiungsbewegung, dem auch die PKK angehört) einsetze, einen unabhängigen kurdischen Staat zu gründen. „Die Bestrebungen für diese Perspektive werden in der Parteizentrale in Diyarbakır umgesetzt. Das Gebäude des Provinzverbands der DBP operiert als Hauptquartier der KCK“, wird der Zeuge in der Anklageschrift zitiert. Dabei fordert die PKK gar keinen Staat für das kurdische Volk. Sie setzt sich für politische Selbstverwaltung und kulturelle Ko-Existenz auf Grundlage ihres Paradigmas einer demokratischen Nation ein.
Zeuge: DBP-Zentrale wie ein „Rekrutierungsbüro“ für die PKK
Ein weiterer Zeuge will ausgesagt haben, dass die DBP „ähnlich wie die HDP“ in Amed als „Rekrutierungsbüro“ für die PKK operiere. An dieser Stelle wird in der Anklageschrift auf die sogenannte Mahnwache vor der HDP-Zentrale in Amed verwiesen. Seit 2019 dauert die auf Direktive der AKP/MHP-Regierung inszenierte und von regimenahen Medien begleitete „Protestveranstaltung“ bereits an. Bei den Beteiligten handelt es sich um Personen, die von der HDP die Herausgabe ihrer angeblich „gewaltsam“ zur kurdischen Guerilla in die Berge gebrachten Angehörigen fordern. Warum sich fünf angeblich voneinander unabhängige Zeugen zum gleichen Zeitpunkt dazu entschlossen haben, gegen Bayındır auszusagen, auf diese Frage liefert die Anklageschrift keine Antwort.
„Brückenfunktion” zwischen KCK und Bildungsgewerkschaft?
Gegen Bayındır selbst stehen allerlei Vorwürfe im Raum. So übe er so etwas wie eine „Brückenfunktion” zwischen der KCK und der von Ankara kritisch beäugten Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen aus mit dem Ziel, eine „organische Verbindung“ zwischen dem Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei (KESK) und „der Terrororganisation“ herzustellen. Dafür habe Bayındır, der ausgebildeter Lehrer ist und kurz nach dem sogenannten Putschversuch 2016 in der Türkei im Rahmen eines Notstandsdekrets (KHK) entlassen wurde, Schulungen unter dem Deckmantel „Informationsveranstaltung“ gehalten. Diese hätten nicht wie behauptet darauf abgezielt einen Prozess anzulegen, bei dem das Publikum vor Ort durch Bildungsprogramme, partizipative Aktionen und eine Bewusstseinsschärfung für lokale Themen aufgebaut wird. Sie seien in Wahrheit dafür organisiert worden, die „Bevölkerung mit terroristischer Propaganda zu indoktrinieren und sie gegen den Staat aufzuwiegeln“.
Legale Veranstaltung plötzlich terroristische Aktionen
Darüber hinaus wird Bayındır die Teilnahme an insgesamt vierzehn legalen Veranstaltungen zur Last gelegt, die in der Anklageschrift in terroristische Aktivitäten umgewidmet wurden. Dabei geht es unter anderem um öffentliche Presseerklärungen gegen Festnahmeoperationen von Aktiven der kurdischen Zivilgesellschaft, die Mandatsaberkennung und Verhaftung der früheren HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Musa Farisoğulları, eine Veranstaltung in Gedenken an die mehr als hundert Todesopfer des IS-Anschlags auf eine Friedenskundgebung in Ankara 2015, sowie Konferenzen der HDP und des Kurdistan-Bündnisses. Auch Interviews, die Bayındır als DBP-Vorsitzender gab, etwa zur ungelösten kurdischen Frage und der Isolation von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, werden als Indiz für seine angebliche PKK-Mitgliedschaft gewertet.
„Ergebnis von Verzweiflung und Depression im Gefühl von Ausweglosigkeit“
Die DBP hatte die Verhaftungen nicht im Rahmen der „üblichen Ermittlungs- und Strafverfolgungsprozeduren“ bewertet. Vielmehr gehe es darum, die Kriminalisierung und Stigmatisierung der politischen Positionen der HDP und ihrer Verbündeten im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch weiter zu torpedieren, die Organisationskraft des kurdischen Volkes zu brechen und das islamistisch-nationalistische Wählerlager unter Verweis auf eine angebliche „terroristische Bedrohung“ hinter dem AKP/MHP-Regime zu sammeln. Die Verhaftung von Keskin Bayındır sei daher als „Ergebnis von Verzweiflung und Depression im Gefühl von Ausweglosigkeit“ zu werten, hatte Saliha Aydeniz, die weibliche Hälfte in der genderparitätischen Doppelspitze der DBP, kurz nach der Verhaftung Bayındırs erklärt. „Die vorgebrachten Gründe für die Inhaftierung sind an Absurdität nicht zu überbieten. Das wissen auch jene, die diese Entscheidung getroffen haben. Sie werden wie alle anderen Feinde des kurdischen Volkes auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.“
Partei der demokratischen Regionen
Die DBP ist im Juli 2014 durch Umbenennung der Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) entstanden. Ihr erklärtes Ziel ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesterpartei die HDP.