Im türkischen Parlament ist am Freitag der Haushaltsmarathon in die letzte Runde gegangen. Zur Abstimmung stehen die Haushaltsabrechnung 2022, ein Nachtragshaushalt für das laufende Jahr sowie der Budgetentwurf für 2023 an. In den bisherigen Verhandlungen zeichnete sich ab, worum es dem herrschenden Koalitionsbündnis aus der islamistischen Erdogan-Partei AKP und dessen ultranationalistischem Partner MHP geht: Die Industrie final an die Wand fahren und die Bevölkerung verarmen lassen. So will der Staat wieder einen riesigen Anteil seines Haushalts in den Krieg in Kurdistan investieren, während die Bevölkerung unter einer schweren Wirtschaftskrise leidet.
Kein Interesse an „Budgetvorschlag des Volkes“
Der Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei (KESK) nutzte die Schlussberatung zum Haushalt, um dem türkischen Parlament einen „Budgetvorschlag des Volkes“ zu unterbreiten. Ursprünglich hatte KESK geplant, die Empfehlungen im Anschluss an eine für den morgigen Samstag in Ankara geplante Kundgebung auszuhändigen. Diese sollte unter dem Motto „Wir kommen nicht über die Runden! Haushalt für Lebensunterhalt statt Wahlkampfhaushalt“ stattfinden. Da der örtliche Gouverneur den Treffpunkt für die Zusammenkunft, den zentralen Tandoğan-Platz, kurzerhand änderte und in den Gedenkpark nahe der Gendarmerie verlegte, wurde die Kundgebung von KESK gänzlich abgesagt. Stattdessen mobilisierte der Dachverband zu einer öffentlichen Erklärung vor dem Parlament. Damit sollte auch gegen die behördliche Einmischung in die Demonstrationspläne protestiert werden.
Presseerklärungen vor Parlament verboten
Aus mehreren Städten reisten Mitglieder der insgesamt elf unter dem Dach der KESK vereinten Gewerkschaften an, doch bis vor das Parlament kam niemand. Die Polizei hatte den Çankaya-Zugang zur Nationalversammlung mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften abgeriegelt und drückte die Menge wiederholt gewaltsam vom Gelände. Mehrmals beobachteten Journalistinnen und Journalisten handgreifliche Polizisten, von denen einige ebenfalls gewaltsam angegangen wurden. Lediglich den Vorsitzenden der KESK-Gewerkschaften, darunter die Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen, wurde nach intensiven Diskussionen zwischen anwesenden Parlamentsmitgliedern und der Einsatzleitung gestattet, in der Nähe des Parlaments eine Erklärung abzugeben. Die einfachen Gewerkschaftsmitglieder zogen sich daraufhin unter Parolerufen in die KESK-Zentrale zurück. Auch hier wurde die Polizei handgreiflich. Mehmet Bozgeyik, Ko-Vorsitzender von KESK, übte scharfe Kritik am Vorgehen der Behörden.
Nur die Spitze des Eisbergs
Auch mehr als sechs Jahre nach dem vermeintlichen Putsch in der Türkei herrsche im Land weiter Ausnahmezustand, besonders in Ankara. „Wir erleben massive Angriffe auf Gewerkschafts- und Menschenrechte und ihre Vertreterinnen und Vertreter. Der heutige Vorfall zeigt nur die Spitze des Eisbergs.“ Laut Bozgeyik stehe den Gewerkschaften eine antidemokratische Mentalität gegenüber, die nicht nur ihre Pflicht verweigere, Menschenrechte und damit Gewerkschaftsrechte zu schützen. Ganz im Gegenteil: diese Mentalität unterlaufe systematisch das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und ziehe ihrerseits erlassene Anti-Terror-Gesetze unter dem Deckmantel der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit heran, um das gewaltsame Vorgehen gegen Proteste und Streiks zu legitimieren, den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum weiter einzuengen und Gewerkschaften jenseits der Regierungsperspektive zu politischen Feinden zu erklären. „Wir sprechen von einer Mentalität der Zwangsverwaltung, eines Treuhänder-Regimes, die sich zuletzt auch in der Verurteilung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu widerspiegelte.“
Couragierte Maßnahmen und Gegenrezepte gegen antidemokratische Mentalität
Ohne couragierte Maßnahmen und Gegenrezepte gegen die in Ankara herrschende „antidemokratische Mentalität“ drohe der Türkei eine noch düstere Zukunft, warnte Bozgeyik. „Die Reichen – eine kleine glückliche Minderheit, die ihre Existenz durch die Ausbeutung der Arbeitenden und der Ressourcen, die der gesamten Bevölkerung gehören, sichert – werden reicher, und die restlichen 99 Prozent – Werktätige, Angestellte, Handwerker, Landwirte und Renter – werden immer ärmer. Jeden neuen Tag verbringen wir mit Teuerungen und Inflation. Die Herausforderungen, die mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten und gleichbleibendem Lohn auf uns zukommen, sind nicht zu stemmen. Unsere Löhne schmelzen wie das Eis in der Sonne und die Haushaltsdebatten weisen die Richtung auf: noch mehr Hunger, noch mehr Armut. Das lassen wir uns nicht bieten. Wir werden kämpfen für ein ‚Budget für alle‘, für einen Haushalt zugunsten des Volkes und der Arbeit.“