Freispruch für „gute Jungs” des tiefen Staates

Im neu aufgerollten Prozess um den Bombenanschlag auf die Umut-Buchhandlung in Şemzînan 2005 mit einem Toten und einem Schwerverletzten ist das dreiköpfige Todeskommando freigesprochen worden.

Im neu aufgerollten Prozess um den Bombenanschlag auf die Umut-Buchhandlung in Şemzînan (tr. Şemdinli) vor sechzehn Jahren mit einem Toten und einem Schwerverletzten ist das dreiköpfige Todeskommando freigesprochen worden. Die Kammer am Strafgericht in Wan folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die für Ali Kaya, Özcan İldeniz und Veysel Ateş, Ex-Agenten der türkischen Konterguerilla, einen Freispruch aus Mangel an Beweisen gefordert hatte. Und das obwohl die Täter auf frischer Tat gestellt worden waren.

Persönlich anwesend im Saal des Justizpalastes in Wan, der von einem großen Aufgebot der Polizei belagert wurde, waren die Angeklagten nicht. Ihr Anwalt Yurdakan Yıldız gab eine völlig bizarre Verteidigung ab und bezeichnete den Prozess als „Inszenierung und Komplott“, das sich „im Sinne der PKK“ gegen die Streitkräfte der türkischen Republik richten würde. Der „eigentliche“ Verantwortliche für den Anschlag von Şemzînan sei der Ladeninhaber selbst. Die Bombe hätte die PKK gelegt.

Inhaber der Buchhandlung: Staatsanwalt steht unter Einfluss

Seferi Yılmaz zeigte sich empört und warf der Staatsanwaltschaft vor, aufgrund seiner Weisungsgebundenheit an die kontrollierte Justiz Partei zu ergreifen. „Wir waren zu dritt in der Buchhandlung. Aus einem Gutachten geht hervor, dass unsere Überlebenschancen gleich null waren. Dass zwei von uns überlebten, geschah nur durch Glück. Ich selbst habe damals die Verfolgung von Veysel Ateş aufgenommen, der die Granate in meinen Laden geworfen hatte. Nach etwa 60 Metern rettete er sich in ein geparktes Fahrzeug. Ali Kaya öffnete den Kofferraum und nahm eine Kalaschnikow in die Hand. Damit versuchte er, in die Menge zu schießen. Wir konnten es verhindern. Wir haben die Täter in flagranti stellen und sie den staatlichen Behörden übergeben können. Dass dennoch ein Freispruch für die Täter gefordert wird beweist, dass die Staatsanwaltschaft hier unter Einfluss einer unsichtbaren Hand steht.“

Rechtsanwaltskammer: Prozess dient als Abrechnung mit FETÖ

Der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer Wan, Zülküf Uçar, erklärte dem Gericht, dass der Anschlag auf die Buchhandlung Umut als Teil des „Verschwindenlassens“ in den 80er und 90er Jahren zu werten sei, als tausende Kurdinnen und Kurden Opfer der Morde „unbekannter Täter“ wurden und ihre Leichen in Massengräbern, Höhlen, Müllhalden, Brunnenschächten oder Säuregruben auftauchten. Außerdem kritisierte Uçar, dass die Anklage wichtige Berichte nicht berücksichtigt habe und warf der Staatsanwaltschaft vor, das Gerichtsverfahren als „Plattform für eine Abrechnung“ mit Richtern und Staatsanwälten, denen Mitgliedschaft in der angeblichen Gülen-Terrororganisation FETÖ vorgeworfen wird, zu missbrauchen. Das Gericht zeigte sich unbeeindruckt und verkündete sein Urteil nach einer kurzen Unterbrechung. Die Verteidiger von Seferi Yılmaz haben angekündigt, das Urteil der Strafkammer anzufechten.

Der Anschlag auf die Buchhandlung Umut

Rückblick: Es ist der 9. November 2005. Seferi Yılmaz, Besitzer der ersten Buchhandlung in Şemzînan, einer kurdischen Widerstandshochburg in der Provinz Colemêrg (Hakkari), will sich gerade mit seinen zwei Mitarbeitern zum Essen setzen, als er einen Kunden zu sehen glaubt. Er läuft einige Schritte Richtung Tür, im nächsten Augenblick wird schon die erste Handgranate in den Laden geworfen. Es gelingt ihm gerade noch „Bombe“ zu rufen, um seine Kollegen zu warnen. Dann rennt er raus und nimmt die Verfolgung auf. Seine Mitarbeiter befinden sich in dem Moment im hinteren Bereich der Buchhandlung. Zahir Korkmaz wird von Schrapnellen tödlich getroffen, sein Cousin Metin Korkmaz überlebt schwer verletzt.

Anschlagsplan auf die Umut-Buchhandlung, der bei den Attentätern des Militärgeheimdienstes gefunden wurde

Bei den Tätern handelt es sich um ein dreiköpfiges Sonderkommando des Militärnachrichtendienstes JIT – Todesschwadronen des tiefen Staates: Ali Kaya und Özcan İldeniz, zwei Militärs im Rang des Feldwebels, sowie Veysel Ateş, ein PKK-Überläufer. Etliche Menschen hatten den Anschlag auf den Laden von Seferi Yılmaz beobachtet und aufgebracht das auf einen Jandarma-Mann zugelassene Fluchtauto gestoppt. Im Kofferraum fanden sie neben Handgranaten aus deutscher Produktion, Kalaschnikows und Munition, einen Plan mit Anschlagszielen sowie Todeslisten mit Namen von 105 Personen, die angeblich die PKK unterstützten. Der Name von Seferi Yılmaz stand rot markiert an erster Stelle. Er gilt als „großer Feind“, da er beteiligt war an der Einleitung des bewaffneten Kampfes der PKK. Dafür saß Yılmaz fünfzehn Jahre im Gefängnis.

Systematische Verfahrensverschleppung

Das Killerkommando war nach dem Anschlag an die Polizei übergeben worden. Mit Schüssen auf die Menge aus einem fahrenden Auto versuchte ein Soldat am folgenden Tag, die Tatortbegehung und Untersuchung des Fluchtwagens durch einen Staatsanwalt zu verhindern. Wieder wurde eine Person getötet, etwa 20 weitere wurden verletzt. In den Wochen danach kam es in etlichen kurdischen Städten zu wütenden Protesten. Die inzwischen verhafteten Täter wurden am 19. Juni 2006 von einem Zivilgericht in Wan wegen Mord, Bildung einer bandenmäßigen Vereinigung und versuchtem Mord zu jeweils 39 Jahren und fünfeinhalb Monaten Haft verurteilt. Der Kassationshof gab ein knappes Jahr später einer Anfechtungsklage wegen Unzulässigkeit statt und ordnete ein Wiederaufnahmeverfahren an. Die Akte wurde dem Militärgericht in Wan übergeben. Der damalige Generalstabschef Yaşar Büyükanıt gab die Linie des Verfahrens vor, indem er die Täter als „gute Jungs” lobte. In der Folge wurde das Trio freigelassen, es begann eine Phase der systematischen Verfahrensverschleppung, die Akte wurde von einem Gericht zum anderen verwiesen.

Dubioses Geständnis eines Staatsanwalts

Am 10. Januar 2012 verurteilte man die staatlichen Killer unter denselben Vorwürfen wieder zu jeweils 39 Jahren und fünfeinhalb Monaten Gefängnis. Die Anklageschrift war von Ferhat Sarıkaya, Ex-Oberstaatsanwalt in Wan, verfasst worden. Dieser ermittelte auch gegen Yaşar Büyükanıt wegen Amtsmissbrauch und dem Aufbau einer illegalen Gruppierung. Sarıkaya warf der damaligen Nummer zwei in der türkischen Militärhierarchie vor, eine ganze Serie von Anschlägen gegen Kurdinnen und Kurden angeordnet zu haben, darunter auch das Attentat auf die Umut-Buchhandlung. Er wurde entlassen, doch zehn Jahre später ließ er nach dem Pseudoputsch vom Sommer 2016 plötzlich verlauten, er sei von „Gülenisten im Polizeiapparat“ unter Druck gesetzt worden, Büyükanıt im Zusammenhang mit dem Anschlag von Şemzînan an den Pranger zu stellen. Daraufhin beantragte das Todeskommando erneut ein Wiederaufnahmeverfahren, das am 11. Oktober 2017 eröffnet wurde. Die Täter kamen wieder auf freien Fuß und wurden in der Folge vom Vorwurf der „kriminellen Bandenbildung“ freigesprochen. Der neu aufgerollte Prozess wurde seit 2018 verhandelt.