Im neu aufgerollten Prozess um den Bombenanschlag auf die Umut-Buchhandlung in Şemzînan (tr. Şemdinli) plädiert die Staatsanwaltschaft auf Freispruch für die drei Ex-Agenten der türkischen Konterguerilla – aus Mangel an Beweisen. In kolonialer Manier verhindert die türkische Justiz damit die Aufklärung eines staatlichen Verbrechens an Kurdinnen und Kurden und nährt die Kultur der Straflosigkeit. Eine Rechenschaftspflicht für Täter gilt im „Südosten“ des Landes offenbar nicht. Auch dann nicht, wenn die Handelnden auf frischer Tat gestellt werden.
Rückblick: Es ist der 9. November 2005. Seferi Yılmaz, Besitzer der ersten Buchhandlung in Şemzînan, einer kurdischen Widerstandshochburg in der Provinz Colemêrg (Hakkari), will sich gerade mit seinen zwei Mitarbeitern zum Essen setzen, als er einen Kunden zu sehen glaubt. Er läuft einige Schritte Richtung Tür, im nächsten Augenblick wird schon die erste Handgranate in den Laden geworfen. Es gelingt ihm gerade noch „Bombe“ zu rufen, um seine Kollegen zu warnen. Dann rennt er raus und nimmt die Verfolgung auf. Seine Mitarbeiter befinden sich in dem Moment im hinteren Bereich der Buchhandlung. Zahir Korkmaz wird von Schrapnellen tödlich getroffen, sein Cousin Metin Korkmaz überlebt schwer verletzt.
Anschlagsplan auf die Umut-Buchhandlung, der bei den Attentätern des Militärgeheimdienstes gefunden wurde
Zwei JIT-Agenten, ein PKK-Überläufer
Bei den Tätern handelt es sich um ein dreiköpfiges Sonderkommando des Militärnachrichtendienstes JIT – Todesschwadronen des tiefen Staates: Ali Kaya und Özcan İldeniz, zwei Militärs im Rang des Feldwebels, sowie Veysel Ateş, ein PKK-Überläufer. Sie haben einen Anschlag auf den Laden von Seferi Yılmaz verübt. Der Mann, der den Buchladen neben seinem Engagement in der kurdischen Lokalpolitik betreibt, gilt als „großer Feind“. Denn als der Guerillakommandant Mahsum Korkmaz (Nom de Guerre: Egîd) am 15. August 1984 in Dih (Eruh) „den ersten Schuss“ der PKK abgab und damit den bewaffneten Befreiungskampf gegen die türkische Besatzungsmacht einleitete, gab Seferi Yılmaz als Teil der „Bewaffneten Propagandaeinheit 21. März” in Şemzînan den zweiten Schuss ab. Dafür saß er fünfzehn Jahre im Gefängnis.
Den Anschlag auf die Buchhandlung Umut – im Türkischen bedeutet der Name „Hoffnung“ – hatte die Bevölkerung von Şemzînan beobachtet. Aufgebracht stoppten sie das auf einen Jandarma-Mann zugelassene Fluchtauto und stellten die Insassen. Im Kofferraum fanden sie neben Handgranaten aus deutscher Produktion, Kalaschnikows und Munition, einen Plan mit Anschlagszielen sowie Todeslisten mit Namen von 105 Personen, die angeblich die PKK unterstützten. Der Name von Seferi Yılmaz stand rot markiert an erster Stelle. Das Trio wurde der Polizei übergeben.
Mit Schüssen auf die Menge aus einem fahrenden Auto versuchte ein Soldat am folgenden Tag, die Tatortbegehung und Untersuchung des Fluchtwagens durch einen Staatsanwalt zu verhindern. Wieder wurde eine Person getötet, etwa 20 weitere wurden verletzt. Die Bevölkerung errichtete daraufhin Barrikaden und stürmte eine Polizeistation. In mehreren kurdischen Städten sowie vor dem türkischen Innenministerium in Ankara kam es zu Protesten. In der Provinzhauptstadt Colemêrg wurden einige Menschen verletzt, als die Polizei mit Tränengas und Schusswaffen gegen eine Demonstration mit rund 3.000 Teilnehmenden vorging. Zur Beerdigung der Getöteten strömten fast 10.000 Menschen aus der ganzen Provinz in Şemzînan zusammen.
Seferi Yılmaz kurz nach dem Anschlag in seiner Buchhandlung
Systematische Verfahrensverschleppung
Ali Kaya, Özcan İldeniz und Veysel Ateş saßen zu dem Zeitpunkt bereits im Gefängnis. Am 19. Juni 2006 wurden sie von einem Zivilgericht in Wan wegen Mord, Bildung einer bandenmäßigen Vereinigung und versuchtem Mord zu jeweils 39 Jahren und fünfeinhalb Monaten Haft verurteilt. Der Kassationshof als oberstes Gericht gab am 16. Mai 2007 einer Anfechtungsklage wegen Unzulässigkeit statt und ordnete ein Wiederaufnahmeverfahren an. Die Akte wurde dem Militärgericht in Wan übergeben. Der damalige Generalstabschef Yaşar Büyükanıt gab die Linie des Verfahrens vor, indem er die Täter als „gute Jungs” lobte. Am 14. Dezember desselben Jahres wurde die Aufhebung der Haftbefehle angeordnet, das Todeskommando in Freiheit geschickt. Über zwei Jahre wurde das Verfahren verschleppt, bis die Akte schließlich am 22. Januar 2010 an ein Strafgericht in Colemêrg geschickt wurde. Die Nebenklage intervenierte, der Fall landete vor einem Schiedsgericht. Am 2. Mai 2011 lag die Akte wieder in Wan an.
Eine Justiz für Täter
Fünf Wochen später wurde das Trio erneut verhaftet. Am 10. Januar 2012 verurteilte man die staatlichen Killer unter denselben Vorwürfen wieder zu jeweils 39 Jahren und fünfeinhalb Monaten Gefängnis. Die Anklageschrift war von Ferhat Sarıkaya, Ex-Oberstaatsanwalt in Wan, verfasst worden. Dieser ermittelte auch gegen Yaşar Büyükanıt wegen Amtsmissbrauch und dem Aufbau einer illegalen Gruppierung. Sarıkaya warf der damaligen Nummer zwei in der türkischen Militärhierarchie vor, eine ganze Serie von Anschlägen gegen Kurdinnen und Kurden angeordnet zu haben, darunter auch das Attentat auf die Umut-Buchhandlung. Er wurde entlassen, doch zehn Jahre später ließ er nach dem Pseudoputsch vom Sommer 2016 plötzlich verlauten, er sei von „Gülenisten im Polizeiapparat“ unter Druck gesetzt worden, Büyükanıt im Zusammenhang mit dem Anschlag von Şemzînan an den Pranger zu stellen. Daraufhin beantragte das Todeskommando erneut ein Wiederaufnahmeverfahren, das am 11. Oktober 2017 eröffnet wurde. Die Täter kamen wieder auf freien Fuß und wurden in der Folge vom Vorwurf der „kriminellen Bandenbildung“ freigesprochen.
Nebenklageanwalt: Schmerzhafte kollektive Erfahrung
Seit 2018 wird der neu aufgerollte Prozess bereits verhandelt, am Donnerstag fand die mittlerweile 14. Hauptverhandlung statt. Kadir Kutevi, Rechtsanwalt der Nebenklage, sprach mit Blick auf die Straflosigkeit für die Täter von einer „schmerzhaften kollektiven Erfahrung“, die die kurdische Gesellschaft als Ganzes geprägt habe. Das gemeinsame Trauma sei aktiv, weil die Handelnden ein Leben in Freiheit genießen und für ihre Taten nicht bestraft werden. Ganz Şemzînan sei empört, diese Dynamik müsse endlich zur Ruhe kommen, forderte Kutevi. Die Staatsanwaltschaft wiederholte, dass kein hinreichender Beweis für strafbare Handlungen der Angeklagten gewonnen werden konnte. Der Prozess wird am 20. Dezember fortgesetzt.