Dorfschützerterror in Wan
Bei Angriffen sogenannter Dorfschützer sind allein im Monat Juli in der nordkurdischen Provinz Wan sechs Menschen getötet worden. Das Dorfschützersystem ist ein Mittel zur Unterdrückung und Vertreibung.
Bei Angriffen sogenannter Dorfschützer sind allein im Monat Juli in der nordkurdischen Provinz Wan sechs Menschen getötet worden. Das Dorfschützersystem ist ein Mittel zur Unterdrückung und Vertreibung.
Das sogenannte Dorfschützersystem wurde mit der Änderung von Artikel 74 des Dorfgesetzes Nr. 442 durch das Gesetz Nr. 3175 am 26. März 1985 als zentrales Mittel der Bekämpfung des kurdischen Aufstands eingeführt. Bereits am 27. Juni 1985 wurde mit der Umsetzung der Richtlinie begonnen und von einer Entvölkerung der ländlichen Regionen in Kurdistan begleitet. Dörfer, die sich weigerten, solche Paramilitärs dem türkischen Staat zu stellen, wurden niedergebrannt und die Bevölkerung wurde vertrieben. Im Zuge dieser Politik wurden über 4.000 Dörfer zerstört oder von Dorfschützern besetzt. So wird bis heute auch eine Rückkehr der Landbevölkerung verhindert.
Dorfschützer: Terror und organisierte Kriminalität
Die Dorfschützer erhalten vom Staat Waffen und werden als offizielle bewaffnete Kraft definiert. Sie stellen in Kurdistan die Erfüllungsgehilfen des Staatsterrors dar und bildeten gemeinsam mit dem türkischen Militärpolizeigeheimdienst JITEM Todeschwadrone, die Tausende Menschen „verschwinden“ ließen. Gleichzeitig ist der türkische Staat durch die Dorfschützer und seine Geheimdienste tief in die organisierte Kriminalität verwickelt. Der Susurluk-Skandal ist beispielhaft dafür. Im November 1996 kam es an der nördlichen Ägäis in der Nähe der Stadt Susurluk zu einem Verkehrsunfall, der die Verflechtung von Staat, organisierter Kriminalität und Politik und die Existenz eines geheimen Konterguerilla-Netzwerkes zu Tage fördern sollte: Der tiefe Staat. In dem gepanzerten Mercedes-Benz 600, der auf einen einbiegenden Lastkraftwagen prallte, befanden sich der wegen mehrfachen Mordes und Heroinhandels per Interpol gesuchte Abdullah Çatlı, der zudem Funktionär der faschistischen „Idealistenverbände“ war, der hochrangige Polizeifunktionär Hüseyin Kocadağ, ehemals Kommandant der Spezialkräfte in Colemêrg (Hakkari) sowie Vize-Polizeichef von Diyarbakir, der Parlamentarier und Dorfschützerführer Sedat Bucak und die einstige Miss Türkei, Gonca Us. Von den vier Insass:innen überlebte nur Bucak, ein kurdischer Stammesführer aus Sêwreg (Siverek) und Mitglied der damaligen Regierungspartei (DYP) von Tansu Çiller, der in seinem Heimatort über eine Privatarmee von 20.000 Dorfschützern aus 90 Dörfern des von ihm kontrollierten Clans gegen die PKK verfügte. Für die Bereitstellung der Dorfschützer bezog Bucak staatliche Gelder in Höhe von monatlich 1,3 Millionen US-Dollar. Der Mafiakiller Abdullah Çatlı verfügte über Waffenscheine, einen Diplomatenpass und einen Polizeiausweis, der ausgestellt worden war vom damaligen Innenminister Mehmet Ağar. In der Benz-Limousine von Bucak wurden sieben High-Tech-Schusswaffen mit Schalldämpfern sichergestellt, außerdem Kokain.
Dutzende Morde, Vergewaltigungen, Folter und Erpressung
Dass dies kein Einzelfall, sondern systematisch ist, zeigt ein Bericht des Menschenrechtsvereins (IHD) von 2014. Dorfschützer begingen Verbrechen wie Tötung, Verwundung, Belästigung, Vergewaltigung, Entführung, Erpressung, Folter, Misshandlung, Verursachung von Selbstmord, Abbrennen von Dörfern, Räumung von Dörfern und Abbrennen von Wäldern. Es wurde festgestellt, dass allein zwischen 2009 und 2013 91 Menschen von den Dorfschützern mit den Waffen des Staates getötet wurden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. In Botan agiert weiterhin der Bucak-Clan als Konterguerilla und die sogenannten Dolch-Teams, die als Todesschwadron agieren, wurden reaktiviert. Gleichzeitig verdienen die Dorfschützer durch die Rodung großer Waldflächen, um der Guerilla keine Rückzugsorte zu bieten, große Summen.
Fehden und Konflikte werden mit staatlicher Hilfe zu Massakern
Oft vermischen sich ökonomische Interessen, Blutfehden und Aufstandsbekämpfung. So auch beim Massaker am 4. Mai 2009 in Bilge. Damals ereignete sich im Dorf Bilge in der Provinz Mêrdîn ein schweres Dorfschützermassaker. Dorfschützer überfielen die Hochzeit einer Familie, mit der sie in Fehde lagen, und massakrierten 44 Teilnehmer:innen, unter ihnen sieben Kinder. Unzählige sind verletzt worden. In dem Dorf wurden viele Kinder zu Waisen. Die Militärpolizei ignorierte den Angriff und versuchte, das Massaker der Guerilla unterzuschieben.
Am 24. Juni 2022 wurden bei einer bewaffneten Auseinandersetzung wegen eines „Konflikts um Land“ im Bezirk Xisxêr (tr. Perwari) in der nordkurdischen Provinz Sêrt zwei Menschen von Dorfschützern getötet und vier Personen schwer verletzt.
Wan: Sechs Morde im Juli
Letzten Monat eröffneten Dorfschützer in Elbak (tr. Başkale) bei einem Konflikt um Land das Feuer auf die Bevölkerung, wobei vier Menschen ihr Leben verloren. Eine Woche vor diesem Vorfall wurden in Şax (tr. Çatak) zwei Menschen durch Schüsse von Dorfschützern getötet. Diese Dorfschützer sind immer wieder auch durch sexualisierte Gewalt aufgefallen.
Vergewaltiger nach Heiratsversprechen freigelassen
Allein in Wan wurden in den vergangenen Wintermonaten vier Dorfschützer wegen sexualisierter Gewalt verhaftet. Ein Beispiel ist Faik Dural. Der Dorfschützer aus Repetik (tr. Öveçli) im Kreis Payîzava (tr. Gürpınar) in Wan vergewaltigte am 23. Dezember 2021 eine 15-jährigen Internatsschülerin. Faik Dural wurde aufgrund der Anzeige der Familie des Kindes wegen „sexueller Nötigung“ festgenommen und wegen „sexuellen Missbrauchs Minderjähriger“ verhaftet, aber bald darauf wieder freigelassen. Offenbar wurde er unter der Bedingung entlassen, die Überlebende seines Angriffs zu heiraten.
Verbrechen sind gewollt
Die HDP-Abgeordnete Muazzez Orhan warnt, die Gewalt der Dorfschützer nehme zu. Die Dorfschützer gingen unverfroren mit einem Vertrauen auf Straflosigkeit vor. Orhan betont: „Die Dorfschützer schikanieren die Familien, Verwandten und Dorfbewohner, mit denen es Landstreitigkeiten gibt, mit den Waffen des Staates. Wir haben von Anfang an gesagt, dass das System der Dorfschützer falsch ist. Belästigung und sexueller Missbrauch sind Straftaten, die unter Verwendung dieser Uniform und Waffe begangen werden. Das ist es, wozu das System der Dorfschützer geführt hat, aber das ist gewollt. Es handelt sich um das Ziel, das mit dem System der Dorfbewachung eigentlich erreicht werden soll. Es ist keine Sache, bei der es nur um die individuellen Täter geht, sondern die Mentalität, die das Dorfschützersystem hervorgebracht hat. Das System zielt darauf ab, Chaos in der Gesellschaft zu schaffen, die Gesellschaft zu korrumpieren und sie auseinanderzureißen.“
„Es geht darum, die organisierte Gesellschaft zu zerstören“
Orhan stellt fest, dass das System der Dorfschützer darauf abzielt, die Gesellschaft unorganisiert und ohnmächtig zu machen. Sie fährt fort: „Auf diese Weise erhalten diese Menschen nicht nur Waffen, sondern auch eine Ausbildung. Wenn plötzlich Probleme zwischen Familien auftauchen, bei denen es drei Tage zuvor noch keine Probleme gab, dann ist dies inszeniert. Es gibt Fälle, bei denen Offiziere und Dorfschützer zusammenarbeiten. Die Prostitution in vielen unserer Provinzen und die Erfahrungen mit Gülistan Doku und Ipek Er zeigen dies deutlich. Es gibt Bestrebungen, diese Verbrechen zu legitimieren. Es hätte das Dorfschützersystem nie geben dürfen. Aber es wurde aufgebaut. Wenn die zweitgrößte Armee der NATO nicht in der Lage ist, ihr eigenes Land zu schützen, wenn sie sich auf Dorfschützer verlässt, sollte dies grundsätzlich in Frage gestellt werden. Außerdem geht es dabei gar nicht darum, die Gesellschaft zu schützen, das Dorfschützerwesen ist zu einem Fokus der organisierten Kriminalität geworden. Es muss abgeschafft werden. Dorfschützersein ist ein Verbrechen. Wir akzeptieren nicht, dass das System der Dorfschützer durchgesetzt wird und unser Volk arm und arbeitslos gehalten wird.“