Brauns: Der tiefe Staat ist nicht nur ein Produkt der Türkei

Die Verbindungen zwischen Teilen des türkischen Staats und dem organisierten Verbrechen sind dem Westen schon lange bekannt. Für die Bundesregierung waren sie bisher aber kein Grund, ihre Beziehungen mit dem Land auf eine andere Grundlage zu stellen.

Seit Wochen sorgen die Youtube-Videos des flüchtigen Schwerkriminellen Sedat Peker über Verbindungen zwischen Teilen des türkischen Staats und dem organisierten Verbrechen für Diskussionen. Es geht um Drogenhandel, Korruption, um nie aufgeklärte Morde und vieles mehr. Doch was Peker in seinen sogenannten Enthüllungsvideos preisgibt, ist bis auf einige Ausnahmen nicht sonderlich neu. Auch der Historiker und Journalist Dr. Nikolaus „Nick“ Brauns wundert sich kaum über die meisten Enthüllungen. „Viel von dem, was Peker sagt, wurde ja in den letzten Jahren schon von der kurdischen Presse enthüllt, von der HDP und anderen Oppositionspolitiker:innen sowie von Journalist:innen wie Can Dündar”, sagt Brauns. Konsequenzen blieben im Regelfall aus. Was nun aber besonders sei, wäre die Tatsache, dass jemand aus dem innersten Kreis des tiefen Staates aussagt.

„Dass sozusagen einer der Täter jetzt bestätigt: Ja, diese Sachen hat es alle gegeben. Die Drogengeschäfte unter dem Schutz von Regierungspolitikern, die Waffenlieferungen an Dschihadisten in Syrien durch die Türkei usw. Klar, Peker nennt natürlich jetzt noch einige Namen und Verbindungen mehr, die wir so vielleicht auch noch nicht gewusst haben, aber im Großen und Ganzen ist es tatsächlich nichts Neues”, meint Brauns. Es gehe nur darum, dass hier jetzt eben nicht Oppositionelle oder kritische Journalist:innen darüber sprechen oder wie bei den Ölgeschäften mit dem IS Dossiers aus Russland vorgelegt werden. Es packe ein „Gangster” aus, der selber in diese Strukturen verwickelt war. Dennoch haben die Enthüllungen Pekers bislang kein politisches Echo ausgelöst, Reaktionen gebe es fast nur bei der Presse. In vielen Ländern werde auch in den großen Zeitungen darüber berichtet, inklusive solchen, die diese Enthüllungen, als sie von linken und kurdischen Quellen kamen, übersehen haben. „Da muss man natürlich auch fragen, warum einem Gangster mehr Glauben geschenkt wird als den kurdischen oder linken Journalist:innen, die schon lange an dem Thema dran sind”, kommentiert Brauns.

Dr. Nikolaus Brauns ist Autor, Historiker und Journalist und lebt in Berlin. Er veröffentlichte Bücher und Artikel zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland sowie zur Geschichte und Politik der Türkei, der Kurden und des Nahen und Mittleren Ostens, unter anderem bei junge Welt und Yeni Özgür Politika. Mehrmals war er als Mitglied diverser Delegationen in den Regionen unterwegs und berichtete ausführlich über seine Eindrücke. Mit Brigitte Kiechle schrieb Brauns das Buch „PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“, mit Murat Çakır verfasste er das Werk „Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung der Türkei“.

Bundesregierung ist „sehr irritiert”

Bei der Bundesregierung herrscht Schweigen zu der Affäre um die Enthüllungen des türkischen Kriminellen und Rechtsextremisten Sedat Peker, obgleich ihr die Inhalte nicht unbekannt sind. „Es ist den anderen europäischen Regierungen ebenfalls nicht unbekannt. Auch sie haben natürlich die Erkenntnisse, die in der Vergangenheit durch kritische Journalist:innen zu Tage gefördert wurden, wahrgenommen”, führt Brauns aus. „Die Bundesregierung hält hier ihre schützende Hand über Can Dündar, der ja einer der bekanntesten Journalisten ist, der über Waffenlieferungen nach Syrien recherchierte und deswegen als Terrorist verfolgt aus der Türkei fliehen musste. Die Bundesregierung weiß diese ganzen Sachen, die Peker hier erzählt. Vielleicht nicht jedes Detail, nicht jede Verbindung, aber im Großen und Ganzen ist der Bundesregierung schon lange bekannt, dass es diese engen Beziehungen zwischen Regierungspolitikern und Mafia und Geheimdienst und Dschihadisten in der Türkei gibt.”

Das sei in der Vergangenheit für die Bundesregierung kein Grund gewesen, ihre Beziehungen zur Türkei, zur türkischen Regierung oder zu türkischen Regierungsparteien auf eine andere Grundlage zu stellen. Es scheine so, dass es auch jetzt kein Grund sein wird, große Änderungen vorzunehmen. Brauns vermutet, dass die Bundesregierung „sehr irritiert” auf die aktuellen Geschehnisse in der Türkei blicke. „Aber auch in der Türkei sehen wir ja, dass dort eigentlich nichts passiert. Wir sehen eine Opposition, die angesichts von Pekers Enthüllungen wie das Kaninchen auf die Schlange schaut. Die HDP sagt im Wesentlichen ja, ‚Das haben wir schon immer gewusst’ und hat jetzt mit einigen sozialistischen Kleinparteien eine Allianz gebildet gegen diese Mafiastrukturen im Staat, aber die können auch nicht viel machen. Von der CHP hört man überhaupt nichts. Und die IYI-Partei zittert wahrscheinlich die ganze Zeit, weil sie Angst haben, dass Peker auch noch auspacken wird, wie die Vorsitzende Meral Aksener als damalige Innenministerin in diesen mafiösen Strukturen des tiefen Staates drinhängt.” Solange in der Türkei nichts passiert, werde auch die Bundesregierung keinerlei Veranlassung sehen, etwas zu unternehmen.

Bewegung in der Innenpolitik kann Veränderung bringen

Konkret müsste in die türkische Innenpolitik Bewegung reinkommen, findet Brauns. Die demokratischen Kräfte sollten sich dafür aussprechen, die Verbindungen zwischen dem türkischen Staat und dem organisierten Verbrechen auszukehren. „Dann kann es sein, dass die Bundesregierung auch diesen Kräften eine gewisse Unterstützung gibt. Nicht weil sie für Demokratie ist, sondern weil sie in den Strukturen des tiefen Staates, in diesen Mafiastrukturen eine gewisse Gefahr für sich selber sieht. Die Drogenhandelsrouten reichen bis Deutschland. Die Dschihadisten, die bewaffnet werden, sind natürlich auch eine Gefahr für Deutschland.” Bei alledem dürfe eine ganz wichtige Sache nicht vergessen werden: Der tiefe Staat, über den Peker auspackt, ist nicht nur ein Produkt der Türkei.

Gladio-Strukturen wurden auch von außen gefördert

„Natürlich hat die Türkei seit dem Osmanischen Reich eine Geschichte aus Geheimbünden und Putschismus. Abdullah Öcalan hatte gesagt, dass es sozusagen der Weg ist, wie in der Türkei Politik gemacht wird. Seit dem Osmanischen Reich, seit den Jungtürken wird über Geheimbündelei und Putschismus Politik betrieben. Aber wir müssen eben auch sehen, dass die Strukturen des tiefen Staates, die Gladio-Strukturen auch von außen gefördert wurden. Es war die NATO, die sich diese Strukturen schon seit den 50er und 60er Jahren mit den Vereinen zur Bekämpfung des Kommunismus, später dann mit den Grauen Wölfen und dem Amt für besondere Kriegsführung, aufgebaut hat. Die heutige türkische Mafia hat ihre Wurzeln in den Straßenkämpfen der 70er Jahre. Sie hat ihre Wurzeln bei den Killern der Grauen Wölfe, die damals im Auftrag des Amtes für Spezialkriegsführung eine Strategie der Spannung geführt haben. Die Grauen Wölfe waren der türkische Arm von Gladio und sie sollten mit ihrem Terror den Putsch vom 12. September 1980 vorbereiten. Danach wurden sie erstmal nicht mehr gebraucht, einige wenige kamen ins Gefängnis, die MHP wurde verboten. Und viele Graue Wölfe machten dann mit dem weiter, was sie gelernt hatten. Sie töteten – nur jetzt für das organisierte Verbrechen. Sie bildeten Mafiabanden. Und sie haben ihre guten Beziehungen zum Staat behalten. Der türkische Geheimdienst hat die Killer der Grauen Wölfe weiterbenutzt. Er hat ihnen gesagt: Ihr könnt eure Drogengeschäfte machen, Schutzgelderpressung und was auch immer. Wir werden euch schützen, aber wir verlangen eine kleine Gegenleistung. Es gibt Aufträge im Ausland, die wir selber nicht übernehmen wollen. Wir wollen uns die Hände selbst nicht schmutzig machen. Wir brauchen euch, damit ihr gegen armenische Aktivist:innen, Kommunist:innen, Exil-Oppositionelle im Ausland vorgeht, diese Leute einschüchtert, diese Leute ermordet. Und im Gegenzug geben wir euch freie Hand für eure schmutzigen Gangstergeschäfte.”

Eine zentrale Rolle bei den Enthüllungen Pekers spielt der türkische Innenminister Süleyman Soylu (AKP), hier links im Bild.

Die Gladio B oder grüne Gladio: Islamistische Bewegungen

Der Unfall in Susurluk 1996 habe dann sehr deutlich die Verbindung staatlicher Stellen mit organisierter Kriminalität gezeigt. Es wurde offenkundig, dass es längst nicht mehr nur „Gangster” waren, die „schmutzige Geschäfte” machten, sondern relevante Stellen im Staatsapparat mitprofitierten und diese Leute schützten. Brauns meint, dass die alten Gladio-Strukturen während des schmutzigen Krieges in Kurdistan immer tiefer im organisierten Verbrechen versanken und spätestens Ende der 90er Jahre außer Kontrolle gerieten. „Und nach dem Ende des Kalten Krieges wurde diese Art von Gladio von der NATO so nicht mehr gebraucht. Sie erwies sich sogar eben als eine Gefahr. In der Zeit baute die NATO ja eine neue, eine Gladio B oder wie manche sagen, eine grüne Gladio auf in Form der islamistischen Bewegung. In der Türkei war das vor allem die Gülen-Bewegung, aber auch andere Gruppierungen wie Milli Görüs wurden schon länger entsprechend benutzt. Es wurde eben probiert, die alten, unkontrollierbar gewordenen Gladio-Strukturen auszuschalten. Das war ja dann im neuen Jahrtausend die Aufgabe von den großen Prozessen Ergenekon oder Balyoz. Bei diesen Prozessen und Massensäuberungen – auch im Militär und Staatsapparat, die damals noch von der AKP gemeinsam mit der Gülen-Bewegung mit voller Rückendeckung durch die NATO und auch durch die EU durchgezogen wurden, ging es darum, diese Ergenekon/Mafia-Strukturen des tiefen Staates auszuschalten. Dafür wurden die neuen tiefen Staatsstrukturen der Gülen-Bewegung genutzt, mit denen sich Erdogan dann aber bekanntlich selber im Streit überworfen hat.”

Später zogen dann wieder Teile der alten Mafiastrukturen, der alten tiefen Staatsstrukturen, die aus den Gefängnissen entlassen wurden, ins Feld. „Und die haben sich wieder mit Erdogan verbündet. Da waren Leute wie Peker dabei oder Alaattin Cakici und andere Kriminelle aus dem Umfeld der MHP.” Brauns beschreibt die charakteristischen Merkmale der Herrschaftsgepflogenheiten Erdogans.

Der Name der westtürkischen Stadt Susurluk steht als Synonym für die Verbindung staatlicher Stellen mit organisierter Kriminalität. Bei dem Verkehrsunfall am 3. November 1996 verunglückten der kurdischstämmige Parlamentsabgeordnete Sedat Bucak, der in seinem Heimatort Sêwreg über eine Privatarmee von 20.000 Dorfschützern verfügte, der hochrangige Polizeifunktionär Hüseyin Kocadağ, ehemals Kommandant der Spezialkräfte in Colemêrg (Hakkari) sowie Vize-Polizeichef von Diyarbakir (Amed) und Istanbul und die Schönheitskönigin Gonca Us zusammen mit dem ehemaligen Funktionär der paramilitärisch-faschistischen „Idealistenverbände” und per Interpol gesuchten Mafiakiller Abdullah Çatlı. 

Eurasier mit prorussischen und prochinesischen Orientierung im Weg

Dessen Regime stütze sich „auf ständig wechselnde Allianzen, Bündnispartner und taktische Verbündete”. Am Anfang standen Liberalen, danach kam die Gülen-Bewegung. Mit der sogenannten kurdischen Öffnung habe Erdogan versucht, die Kurd:innen als „taktischen Partner” reinzuholen. Als er merkte, dass dieser Plan nicht funktionieren würde, stützte er sich schnell auf die Grauen Wölfe beziehungsweise die MHP. „Mit der Gülen-Bewegung hat er sich überworfen und stattdessen die sogenannten Eurasier, also die Kräfte um Dogu Perincek, die vorher unter den Gülenisten im Gefängnis gesessen sind, ins Boot geholt. Jetzt versucht Erdogan gerade wieder eine gewisse Annäherung an die USA und Europa. Da sind die Eurasier mit ihrer prorussischen und prochinesischen Orientierung im Weg und werden wieder auf die Seite geschoben.”

Abwarten, wer am Ende profitieren wird

Erdogans Herrschaft sei das, was politikwissenschaftlich eine „bonapartistische Herrschaft” genannt wird, sagt Brauns. „Sie kann sich vor allem halten, weil sie sich auf wechselnde Kräfte stützt, die sie gegeneinander ausspielt, und auf ständig wechselnde Allianzen. Das erleben wir gerade wieder.” Brauns könne noch nicht wirklich einschätzen, wer hinter Peker steht. Persönlich glaubt er nicht, dass es sich um einen Privatkrieg des Mafiabosses handelt, weil dieser sich durch den Innenminister verraten sieht und von Polizisten bei einer Hausdurchsuchung gegenüber seiner Frau beleidigt wurde. „Das ist das, was Peker angibt. Aber ich kann es mir wirklich nicht vorstellen, dass er diesen Krieg ganz alleine führt. Ich frage mich schon, wer steht noch dahinter, welche innenpolitischen Strukturen, welche ausländische Staaten. Es ist wirklich schwer zu sagen. Wir müssen abwarten, wer am Ende profitieren wird von der ganzen Geschichte.”