Weiterhin wird die nordkurdische Stadt Colemêrg (tr. Hakkari) anstelle ihrer gewählten Ko-Bürgermeister:innen der Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM) von einem zum Zwangsverwalter eingesetzten türkischen Beamten regiert. Viele kurdische Städte befanden sich bis zu den letzten Kommunalwahlen am 31. März jahrelang unter Zwangsverwaltung. Was Zwangsverwaltung in der Praxis bedeutet, wird daran klar, dass beispielsweise wie in Städten wie Amed (Diyarbakir) sämtliche Projekte in Bezug auf Mehrsprachigkeit, kurdische Sprache und Kultur gestrichen wurden und das kulturelle Gedächtnis sogar aus dem Stadtbild gelöscht werden sollte. Die Stadt befand sich mit kurzer Unterbrechung acht Jahre unter Zwangsverwaltung und erlebte in dieser Zeit einen massiven Prozess der Assimilation. Jahrhunderte alte architektonische Strukturen wurden vernichtet und an ihre Stelle einförmige, leicht zu kontrollierende, moderne Wohnblocks gesetzt. Die Menschen wurden de facto in diesen Wohnfabriken isoliert. Statt des Beziehungsnetzes im Stadtviertel sollten die Menschen so auf engste Familienstrukturen beschränkt werden. Diese Wohnform stellte einen Angriff auf die kollektive Lebensform der kurdischen Bevölkerung dar. Während die Spuren der kurdischen Kultur, die die einzigartige Identität der Stadt widerspiegeln, mit dieser architektonischen Umgestaltung systematisch ausgelöscht wurden, wurde das kollektive Gedächtnis der Stadt durch den Stopp aller kurdischen Kunst- und Kulturaktivitäten der Stadtverwaltung weiter geschwächt. Ahmet Aslan, der sich seit langem in der Kommunalpolitik von Amed engagiert und als Ratsmitglied in der Stadt- und Kreisverwaltung tätig war, beantwortete im ANF-Interview Fragen zu den Folgen der Zwangsverwaltung.
Wie hat sich die Zwangsverwaltung auf den architektonischen Charakter der kurdischen Städte ausgewirkt?
Das Vorgehen der Zwangsverwalter in den kurdischen Städten bedeutete Dekonstruktion, Identitätsraub und Missachtung der regionalen Kulturgeschichte. Durch ihr Vorgehen wurde die kurdische Identität, wie auch die der dort lebenden Völker in ihrer Gesamtheit verleugnet. Die Zwangsverwaltung ist die politische Manifestation der Verleugnungspolitik. Die Art und Weise der Eingriffe zeigt, dass es sich um keinen Zufall, sondern um ein in allen Bereichen geplantes und kalkuliertes Vorgehen handelt. Das wird klar, wenn man betrachtet, wie manchmal ganze Gebiete dem Erdboden gleichgemacht und somit fremd gemacht werden, wie sie manchmal dem Verfall preisgegeben und manchmal gentrifiziert werden. Damit wird deutlich, wie negativ sich diese Politik auf die Dynamik der Stadt als Ganzes auswirkt. Sie hat die räumliche und soziale Fragmentierung der Stadt als Konsequenz.
Die Politik der Zwangsverwaltung ist Teil der praktischen Umsetzung des Versuchs, den Ansatz der Verleugnung und Missachtung gegenüber der kurdischen Politik auf alle Bereiche des sozialen Lebens zu übertragen.
Es ist notwendig zu verstehen, dass diese Denkweise ein Ergebnis der grundsätzlichen Herangehensweise an die kurdische Bevölkerung ist, dass es sich um ein komplexes, vielschichtiges und zusammenhängendes politisches Konzept handelt. Beim Zwangsverwaltersystem handelt es sich um die praktische Umsetzung der Verleugnung und Negation. Das zeigt sich in den stadtplanerischen Eingriffen in die Struktur von Amed, in der Veränderung der historisch gewachsenen räumlichen Identität der Stadt. Diese Politik des Identitätsraubs zeigte sich bereits bei der ersten Ernennung von Zwangsverwaltern. In jedem Gebiet der Stadt, in Şehitlik, Ben û Sen, Sûr, Fiskaya, Mehella Quça, Fabrîka und vielen Gebieten von Rêzan, also praktisch überall wurde dieser Angriff auf die Identität durchgeführt. Dabei wurden in jedem Gebiet andere Methoden angewandt. Einerseits ging es darum, gleichzeitig auch Profite zu generieren und andererseits die historisch gewachsene Struktur der Stadt, ihr kulturelles Gedächtnis zu zerstören. So zeigte sich die Politik der Verleugnung der kurdischen Identität. Man begann damit, der Stadt als Ganzes ihre Identität zu rauben oder sie zu vernichten. Die Geschichte von Zehntausenden von Jahren wird entweder als Beute betrachtet und geraubt oder zerstört. Dieser Prozess hat meiner Meinung nach der Identität der Stadt schweren Schaden zugefügt. Wir sehen, dass dieser Prozess auch heute noch anhält und dass diese Situation nicht allein durch die erneute Übernahme der Stadtverwaltungen durch die DEM-Partei aufgehalten werden kann.
Welche Auswirkungen hat das Fehlen von künstlerischen und kulturellen Aktivitäten auf das gesellschaftliche Gedächtnis?
Das Gedächtnis der Gesellschaft sollte nicht nur im Hinblick auf die Entstehung von Orten betrachtet werden. Wichtig ist auch das kulturelle Gedächtnis, das sich seit alten Zeiten entwickelt hat. Künstlerische und kulturelle Aktivitäten basieren auf der Synthese mit dieser Vergangenheit. Daher ist es wichtig, dass dieses Gedächtnis lebendig bleibt und der historische Reichtum von kultureller Erfahrung ans Licht gebracht wird. Der Versuch, sämtliche künstlerischen Strukturen der Stadt, ihre Gastronomie, ihre Literatur, ihre traditionelle Kultur und die Folgen ihres Fehlens richtig zu beschreiben, hat die Konsequenzen der postmodernistischen Transformation der Stadt offenbart. Amed ist dabei, sich in eine entfremdete Stadthülle zu verwandeln. Das ist ein wirklich ernstes Problem. Wir sehen diese negative Situation in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens. Künstlerische und kulturelle Aktivitäten in der Stadt schaffen Identität, Bewusstsein, soziale Solidarität, die Fähigkeit, sich durch Zusammenkommen auszudrücken, und lösen positive soziale Interaktionen aus. Wir können sehen, wie der Geist der Solidarität aufgrund des Mangels an Aktivitäten allmählich verschwindet. Das führt zu einer gefährlichen Phase, in der die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, sich einfach durch ihre Sprache und Kultur auszudrücken, sondern sich entfremdet und individualisiert.
Welche Maßnahmen können gegen diese Entfremdung und die Zerstörung ergriffen werden?
Dabei müssen wir mit Begriffen wie Gentrifizierung, städtischem Wandel, städtischer Segregation, Entfremdung, Gedächtnis und Sicherheit beginnen. Natürlich ist es auch notwendig, dieses Thema mit den zuständigen Stellen zu diskutieren. Die Funktion dieses Raumes, der sich seit dem Übergang zu einer staatlich beherrschten Gesellschaft immer stärker vom ländlichen Raum unterscheidet, hat sich im Rahmen der kapitalistischen Moderne weiter ausgeprägt. Die Städte sind zu einem Gebiet geworden, in dem die Auswirkungen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Einflüsse immer deutlicher zu Tage treten. In den kurdischen Provinzen hat die Politik der Zwangsverwaltung der jüngsten Zeit zusätzlich zur Unterdrückung durch die kapitalistische Moderne eine Struktur geschaffen, die den Raum immer weiter fragmentiert, Konflikte schürt, die soziale Einheit auflöst, das kulturelle Gedächtnis und den Geist der Solidarität, die durch historische Erfahrungen entstanden sind, auslöscht und so die Stadt der Assimilation und Zerstörung preisgibt.
Demgegenüber müssen eine ganze Reihe von Aufgaben angegangen werden. Es muss eine Stadtentwicklungspolitik praktiziert werden, durch die diese Fragmentierung rückgängig gemacht wird. Durch eine Betrachtung der Stadt als Ganzes sollten in den Gebieten, die sich in Problemgebiete verwandelt haben, infrastrukturelle Maßnahmen und Aktivitäten zur Schaffung von Bewusstsein und der Verbesserung der gemeinsamen Lebensräume durchgeführt werden. Der Schaffung von Einrichtungen zur Pflege des kulturellen Gedächtnisses der Stadt kommt eine besondere Bedeutung zu. Dazu müssen alle Dynamiken und Akteure in Amed an einem Strang ziehen. Wenn man das soziale Leben als Ganzes betrachtet, muss auch die diesbezügliche Arbeit in allen Bereichen durchgeführt werden. Es sollten Workshops, Seminare, Konferenzen, kulturelle/künstlerische Veranstaltungen und Aktivitäten, die alle Segmente der Gesellschaft einbeziehen, organisiert werden. Bei der Schaffung von Bewusstsein müssen alle Dynamiken in der Stadt einbezogen werden. Vom Handwerker bis zum Arbeiter, vom Arbeitslosen bis zum Behinderten. Die Arbeit muss in allen Bereichen der Stadt durchgeführt und auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet werden. Die Tatsache, dass es sich um eine kurdische Stadt handelt, sollte holistisch betrachtet werden, das heißt, sowohl die Architektur als auch das soziale Gefüge müssen einbezogen werden. Aus diesem Grund sollten für alle Komponenten entsprechende Arbeitsgruppen organisiert werden und in diesem Zusammenhang eine kollektive Arbeit unter Einbeziehung aller sozialen Akteure durchgeführt werden.
Was sollten die Kommunen tun?
Im Mittelpunkt der Arbeit der Stadtverwaltung von Amed und der Verwaltungen der Kreisstädte sollte die kulturelle Identität und das historische Gedächtnis stehen. Es ist wichtig, strategische Pläne für die Wiederbelebung der historischen Kulturstätten und gleichzeitig des Gedächtnisses und des Geistes der Stadt zu entwickeln. An diesem Punkt sollten die Kommunen gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Komponenten vorgehen und manchmal eine unterstützende, manchmal eine ausführende und manchmal eine wegweisende Rolle spielen. Die Kommunen müssen Initiativen zur Wiederbelebung der städtischen Identität umsetzen und unterstützen. Ausgangspunkt muss ein politischer Ansatz sein, der das Ziel hat, alle gesellschaftlichen Komponenten dazu zu motivieren, die strukturellen Veränderungen in sich selbst zu begreifen und die Dienstleistungen in der Stadt in dieser Hinsicht zu bewerten. Es sollten kulturelle Aktivitäten, Festivals, Ausstellungen usw. organisiert werden. Es sollten Broschüren und Jahreskalender zum Thema städtische Kultur und Identität gedruckt und an alle Haushalte verteilt werden. Diese Aktivitäten sollten kalendarisch erfasst und über das ganze Jahr verteilt werden.
Welche sozialen Veränderungen konnten Sie durch die Zwangsverwaltung beobachten?
Während der Zwangsverwaltung wurden Stadtviertel, Straßen und Alleen in der Stadt umbenannt. Außerdem wurden Kultureinrichtungen, die von den Stadtverwaltungen eingerichtet worden waren, geschlossen und an ihrer Stelle andere Institutionen eingerichtet, und es wurden Gebäude, die als historische Kulturdenkmäler zu betrachten sind, in Sûr niedergerissen. Es ist klar, dass es bei diesem Angriff nicht nur um ein Vorgehen gegen demokratische Strukturen geht, sondern um eine Vernichtung von kurdischer Sprache, Kultur und Geschichte insgesamt. Die Zwangsverwaltung dauerte insgesamt mehr als acht Jahre an und zielte darauf ab, alles, was die kurdische Identität trägt, zu vernichten. Sechs Viertel von Sûr wurden dem Erdboden gleichgemacht. Auch Ali Paşa und Lale Bey wurden teilweise abgerissen. In den übrigen Vierteln wurde eine Politik des gezielten Verfalls durchgeführt. Dabei ging es nicht nur darum, das Gedächtnis des Ortes und den Geist der widerständigen Straßen zu zerstören, sondern auch ihre Struktur und die Gebäude, die diesen Widerstand ermöglichen, zu vernichten. Insbesondere an Orten mit historischer Bedeutung wurde mit stadtplanerischen Maßnahmen eingegriffen. Die soziale Struktur von sechs Vierteln in Sûr wurde ebenfalls komplett verändert. So ist dieses Gebiet für die Bewohner:innen nicht mehr nutzbar. Entweder werden die Gebiete vollständig kommerzialisiert oder sie werden dem Verfall preisgegeben. Wieder andere wurden den Trägern, Stiftungen und Vereinen der Regierung geschenkt oder vermietet. Dieser Ansatz bringt eine Veränderung des soziokulturellen Gefüges der Stadt mit sich. Man hat versucht, die Stadt ins Chaos zu stürzen, in der es keine Lebensqualität und keine Identität mehr gibt. So sollte die Gesellschaft und ihre Werte zerstört werden. Es hat den Anschein, dass auch das nicht ausgereicht hat. Denn es gab Versuche, das soziale Gefüge der Stadt als Ganzes zu zerstören, indem man der organisierten Kriminalität, Drogen und Prostitution den Boden bereitete. So haben sich in diesen Zerstörungsgebieten kriminelle Banden breit gemacht.
Welche Auswirkungen hatten die architektonischen Veränderungen auf die Identität der Menschen in der Region?
Die Auswertung zeigt, dass sich nicht nur die Namen von Straßen und Gassen geändert haben, sondern auch strukturelle Veränderungen in Bezug auf die Urbanisierung, einschließlich der Zoneneinteilung der Stadt, die alle Bereiche, von den Straßen bis zu den Parks, gestört, zerstreut und dysfunktional gemacht haben. Indem in einigen Parks Moscheen und leere Gebäude errichtet wurden, wurde ihnen die Rolle als Erholungsgebiete für die Menschen genommen. Die Politik des Identitätsraubs wurde durch solche strukturellen Eingriffe in jedem Bereich umgesetzt. Manchmal wurden in der Stadt sinn- und identitätslose zusammengesetzte Figuren, die den künstlerischen Werten spotten, aufgestellt und manchmal wurden die Geschichte und die historischen Werte der Stadt einfach missachtet. Diese Situation dauert immer noch an. So wurde beispielsweise der Kerker von Amed in ein Museum verwandelt. Man möchte weiterhin die Spuren der Folter und des Widerstands verschwinden lassen und dort ein archäologisch-ethnografisches Museum einrichten. Konzepte, die den Inhalt einiger historischer Stätten und Orte entleeren, sind ebenfalls politische Konzepte, die bis heute fortbestehen. Wir sehen also, dass weiterhin versucht wird, den Ausdruck der sozialen Vielfalt der Menschen vor Ort zu verhindern, die Eigenheiten der Völker zu missachten und die Menschen von der Kultur der Versöhnung der Unterschiedlichkeiten abzubringen.
Was für konkrete Schritte können von den Stadtverwaltungen unternommen werden?
Wenn wir betrachten, woran die Zwangsverwalter konkret Hand angelegt haben, dann wird auch deutlich, was getan werden muss. Aber auch, was nicht getan werden sollte, zeigt sich hier. Die Wiederherstellung der eigenen Identität der Lebens- und Sozialräume der Stadt muss über den Weg der eigenen Sprache geschehen. Aus diesem Grund sollten wir mit der Sprache beginnen und mit ihr sogar eine Kampagne starten, indem wir die Namen von Straßen, Wegen, Gebäuden und Arbeitsplätzen vollständig ins Kurdische übersetzen. Die Stadtverwaltung muss auch praktische Arbeit leisten, um die Architektur der Stadt in den Vordergrund zu rücken und das Straßenbild und die Stadtteilkultur wiederzubeleben. Diese Politik muss nachhaltig verfolgt werden. Insbesondere Restaurierungsarbeiten an historischen Orten muss große Bedeutung beigemessen werden, und in Zusammenarbeit mit der städtischen Gesellschaft muss das historische Straßengefüge wieder freigelegt werden. Es ist wichtig, die Nachbarschaftskultur der Stadt wiederzubeleben, die Häuser in den Vierteln zu reparieren und Nachbarschaftstreffen abzuhalten. In jedem Viertel müssen Versammlungen abgehalten werden, die den Boden für die Inanspruchnahme der kulturhistorischen Strukturen der Viertel bereiten, das nötige Bewusstsein schaffen und eine gemeinsame Entscheidungsbildung befördern.