Im Altstadtbezirk Sûr in Amed (tr. Diyarbakir) ist am 2. Dezember 2015 eine Ausgangssperre erklärt worden. Weite Teile des Bezirks sind von türkischen Sicherheitskräfte zerstört worden. Die nach der Ausrufung der Selbstverwaltung ausgebrochenen Kämpfe dauerten 103 Tage bis zum März 2016 an. Das Ausgangsverbot ist teilweise auch heute noch gültig.
Sûr war bis zur Zerstörung durch den türkischen Staat mit seinen historischen Bauwerken und seiner Sozialstruktur ein einmaliges Siedlungsgebiet. Die Mauer um die Altstadt von Amed gehört zu den längsten der Welt und befindet sich auf der Welterbeliste der UNESCO. Die engen Gassen, Wohnhäuser, Kirchen, Moscheen und Zisternen in Sûr waren lebende Geschichte. Nach der Zerstörung wurde fast die gesamte Fläche verstaatlicht, die ursprüngliche Bevölkerung wurde vertrieben. Der Bezirk hat seinen ehemaligen Reiz und seine Pracht verloren.
In den neu errichteten Gebäuden bietet die AKP/MHP-Regierung ihrer Anhängerschaft Raum. Bereits jetzt sind religiös-rassistische Orden und regierungsnahe „Nichtregierungsorganisationen“ in das Viertel eingezogen. Die neue Struktur dient der Assimilation und dem wirtschaftlichen Profit. Auch Drogenhandel und Prostitution sind auf dem Vormarsch.
Lokman Bakir lebt seit den 1960er Jahren in Sûr und war bis zu den letzten Wahlen Ortsvorsteher im Savaş-Viertel, in dem er geboren und aufgewachsen ist. In seiner Kindheit war das soziale Leben dort sehr schön, sagt Bakir. Inzwischen sind seine früheren Nachbarn und Verwandten verschwunden, alle sind an verschiedene Orte gezogen. Bakir erzählt von früher: „Ich habe mich selbst hier kennengelernt. Ich kenne keinen anderen Ort. Wenn ich in ein anderes Viertel wie Diclekent gehe, verlaufe ich mich. Ich hatte ein Haus hier, der Staat hat es zerstört.“
Nicht nur sein Viertel, auch Cevatpaşa, Fatihpaşa, Dabanoğlu, Hasırlı und Cemal Yılmaz wurden mit Panzern und Artillerie zerstört. „Die Menschen mussten wegziehen. Jetzt sind neue Gebäude gebaut worden, aber die historische Baustruktur ist nicht mehr zu erkennen. Diese neuen Gebäude zählen für mich nicht. Es ist auch unklar, was daraus werden soll. Vielleicht soll dort Alkohol ausgeschenkt oder Prostitution betrieben werden. Wir wissen jedenfalls, dass sich viele Gastronomiebetreiber dafür interessieren“, so der ehemalige Ortsvorsteher.
Bakir weist auch auf die soziale Veränderung hin: „Früher lebten hier Familien, die irgendeinen Lebensunterhalt hatten. Sie sind in andere Stadtbezirke vertrieben worden, in denen sie weder wirtschaftlich noch kulturell überleben können. In Sûr und auch im Rest der Stadt hat die Armut zugenommen. Wenn die Menschen kein Geld für Brot haben, suchen sie mit illegaler Arbeit nach einem Ausweg. Das würde mir auch so gehen, wenn ich mein Kaffeehaus und mein Geschäft nicht hätte. Niemand von uns ist glücklich. Ich lebe jetzt mit meiner Familie in einem Appartement im siebten Stock und kenne meine Nachbarn nicht. Lieber würde ich in einem Zelt in Sûr leben als in dieser Wohnung in Diclekent. Die letzten Jahre waren nicht schön.“
Die Straße, in der Bakir früher gewohnt hat, existiert nicht mehr. Alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden.