Politisch motivierter Vergeltungsakt
Die kurdische Journalistin Öznur Değer ist Anfang Februar in Mêrdîn (tr. Mardin) verhaftet worden und sitzt aktuell im Frauengefängnis Erzincan in Untersuchungshaft. Der Korrespondentin der Frauennachrichtenagentur JinNews wird „Propaganda“ zugunsten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen, ihr Prozess beginnt heute.
Fragliche „Beweise“
Die Journalistin wird wegen ihrer Beiträge in den sozialen Medien angeklagt. In der Anklageschrift werden die am 8. Januar in der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) durch einen türkischen Drohnenangriff ermordeten Journalist:innen Nazim Daştan und Cihan Bilgin als „Organisationsmitglieder“ [der PKK, Anm. d. Red.] aufgeführt. Değer hatte sich im Netz auf sie bezogen. Auch ein Foto ihres Bruders, Abdulselam Değer (Kendal Qoser), der 2016 im Städtekrieg der Türkei als Mitglied der Zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) gefallen war, wurde als vermeintliches Beweismittel gegen sie verwendet.
Die für heute angesetzte Anhörung wird von vielen Beobachter:innen aufmerksam verfolgt, darunter die Vereinigung der Journalistinnen Mesopotamiens (MKG), der Journalistenverein Dicle Firat (DFG), der Menschenrechtsverein (IHD), die Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) und zahlreiche andere.
Politisch motivierter Vergeltungsakt
Die Journalistin Öznur Değer bezeichnete ihre Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung als einen politisch motivierten Vergeltungsakt und sagte in einer Botschaft, die sie vor der Anhörung verschickte: „Dieser Fall meint alle Medienschaffenden, die den Kampf der Frauen und ihre berufliche Würde verteidigen. In einer Zeit, in der Frauen in allen Lebensbereichen zur Zielscheibe werden und allen Formen männlicher Gewalt ausgesetzt sind, ist es für jede Frau wichtig, eine prinzipientreue Haltung als Frau zu verteidigen. Ich wurde nicht wegen meiner Identität als Journalistin, sondern wegen meiner Identität als Frau verhaftet, nachdem ich auf die sexistischen Äußerungen eines Polizeibeamten der Polizei von Mêrdîn reagiert hatte.
Diese Verhaftung war das Ergebnis eines Racheaktes. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Er betrifft jede Frau, die feministische Werte und Integrität verteidigt, und alle Medienschaffenden, die die Ehre ihres Berufs hochhalten. Deshalb halte ich es für eine Gewissensfrage, dass jede:r, die:der sich gegen Sexismus und moralische Korruption einsetzt, bei dieser Anhörung anwesend ist. Ich möchte noch einmal allen danken, die sich solidarisch gezeigt haben, insbesondere den Frauen und den journalistischen Kolleg:innen. In der Hoffnung, dass wir am 22. Mai auf diesem Boden gemeinsam die Saat des Friedens für eine freie und friedliche Zukunft dieses Landes säen werden... Mit Liebe und Respekt.“
Hintergrund
Hintergrund ist ein Vorfall im Dezember: Bei einem Beileidsbesuch der Frauenbewegung TJA in Midyad gegenüber der Familie der bei einem türkischen Drohnenangriff in Rojava getöteten Journalistin Cihan Bilgin hatte Değer sexistische Bemerkungen eines türkischen Polizisten öffentlich als „obszön“ kritisiert und ihn als „Faschisten“ bezeichnet. Wenig später wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Beamtenbeleidigung eingeleitet.