Die Ideologie der Dschihadistenorganisation „Islamischer Staat“ (IS) ist auch nach der Zerschlagung der IS-Territorialherrschaft in Nord- und Ostsyrien gefährlich. Die terroristisch agierende salafistische Miliz ist zwar seit Ende März geschlagen, aber noch immer nicht besiegt. Dass ihre Propaganda auch weiterhin Gehör findet, zeigt ein Vorfall, zu dem es vor einigen Tagen im Camp Hol gekommen ist. In der Zeltstadt im nordsyrischen Kanton Hesekê tötete eine aserbaidschanisch-stämmige IS-Dschihadistin ihre eigene Enkeltochter. Die Vierzehnjährige hatte sich offenbar geweigert, einen Scharia-konformen Ganzkörperschleier zu tragen. Wie es im Obduktionsbericht des Krankenhauses Wetenî heißt, ist die Minderjährige zunächst massiv misshandelt worden, bevor sie von ihrer eigenen Großmutter erwürgt wurde.
UN: Staaten haben wichtige Pflichten gegenüber ihren Bürgern
Seit der Zerschlagung der letzten IS-Bastion al-Bagouz durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) befinden sich IS-Dschihadisten aus fast 50 Ländern mit ihren Familien in Gefangenenlagern in Nordsyrien und dem Irak. Die Vereinten Nationen sprechen allein von 55.000 Islamisten und ihren Angehörigen, die aktuell im Camp Hol festgehalten werden. Erst gestern forderte die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zum Auftakt der dreiwöchigen Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf, Kinder und Frauen ausländischer IS-Dschihadisten in ihre Heimatländer zu holen. „Staaten haben wichtige Pflichten gegenüber ihren Bürgern”. Insbesondere Minderjährige, die von der Terrormiliz ideologisch beeinflusst worden seien, müssten beschützt und psychologisch betreut werden, sagte Bachelet.
Heimatländer reagieren nur zaghaft
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien appelliert bereits seit Monaten an die Herkunftsstaaten, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Mit dem militärischen Sieg über den „IS” befinden sich 11.000 IS-Dschihadisten sowie Zehntausende Frauen und Kinder von Islamisten in den selbstverwalteten Gebieten, die ein erhebliches Gefahrenpotential darstellen. Doch die Heimatländer reagieren nur zaghaft auf die Forderung einer Rückholung ihrer Staatsbürger*innen. Bisher haben Frankreich, Norwegen, Schweden, Russland, der Sudan und weitere Länder IS-Angehörige aus Syrien zurückgeholt.
Einrichtung eines internationalen Gerichthofs in Nord- und Ostsyrien
Auch die Bundesregierung hat sich nach monatelangem Aussitzen erstmals bereit erklärt, Kinder von IS-Angehörigen nach Deutschland zurückzuholen. Nach Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung erklärte das Auswärtige Amt dies im Rahmen eines derzeit laufenden Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht in Berlin. Das Auswärtige Amt reagierte mit der Erklärung auf die Klage der Großeltern zweier minderjähriger Waisenkinder, die sich derzeit im Flüchtlingslager Hol im Kanton Hesekê aufhalten. Ihre Mutter soll bei den Kämpfen um die letzte IS-Bastion al-Bagouz ums Leben gekommen sein.
Bisher hatte das Auswärtige Amt die eigene Untätigkeit mit fehlenden Möglichkeiten zur konsularischen Betreuung auf syrischem Boden gerechtfertigt. In dem Verfahren in Berlin erklärte es nun, weiterhin nicht „unmittelbar tätig werden“ zu können, sich aber bereits seit Monaten um eine Lösung mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen zu bemühen.
In Nord- und Ostsyrien wird seit einiger Zeit an der Einrichtung eines internationalen Gerichthofs gearbeitet. Ein sechsköpfiges Jurist*innenkomitee wurde gegründet, um die Gerichtsverfahren gegen die Tausenden von den QSD gefangengenommenen IS-Dschihadisten vorzubereiten.