Renaissance der Ezid:innen
Der in der Türkei inhaftierte kurdische Vordenker Abdullah Öcalan hat einen Brief an die ezidische Gemeinschaft verfasst. Wir veröffentlichen eine deutsche Übersetzung der über die Imrali-Delegation der DEM-Partei übermittelten Botschaft:
Der Prozess wird vor allem die Renaissance der Ezid:innen sein
„Die Geschichte unseres ezidischen Volkes ist eine Geschichte voller Massaker, Vertreibungen, großem Leid und Unterdrückung. Die Ezid:innen gehören zu den ältesten Glaubensgemeinschaften und Völkern Mesopotamiens. Um ihre Kultur, Identität und Existenz zu bewahren, haben sie hohe Opfer gebracht. Die erlittenen Tragödien sind nicht nur im kollektiven Gedächtnis des ezidischen Volkes, sondern auch im Gewissen der gesamten Menschheit tief verankert.
Im Laufe der Geschichte wurden sie immer wieder Angriffen ausgesetzt, doch trotz allem haben sie ihre Existenz bewahrt, weil sie Widerstand geleistet haben. Im vergangenen Jahrhundert führten Angriffe nationalstaatlicher Ideologien zu Massakern, die bis hin zum Völkermord reichten. Das Massaker von Şengal im Jahr 2014 war eine Fortsetzung dieser Ideologie, die darauf abzielte, die Existenz der Ediz:innen auszulöschen. Doch dieses Mal fand unser ezidisches Volk schnell zur Freiheitsbewegung, organisierte sich und trat in den Widerstand. So entwickelte sich die historische Gegenwehr gegen das Massaker. Besonders bedeutsam ist die Beteiligung der Frauen an diesem Widerstand. Damit hat die Gemeinschaft begonnen, ihre Zukunft mit eigenen Händen zu gestalten.
Die Zukunft unseres ezidischen Volkes wird auf Grundlage seiner eigenen Kraft und demokratischen Willensbildung im Sinne einer demokratischen Gesellschaft geformt werden. Es muss eine gesellschaftliche Struktur aufgebaut werden, in der die Ezid:innen ihren Glauben frei ausleben können. In der Phase, die wir erreicht haben, ist der Aufbau eines demokratischen Systems von entscheidender Bedeutung für den Erhalt und die Fortführung der ezidischen Identität.
Aktion „Abdullah Öcalan zu Gast in Şengal“ der TAJÊ im Rahmen der weltweiten Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan – Eine politische Lösung der kurdischen Frage“ im Mai 2024 in Sinûnê © ANF
Auf der Basis der Perspektive einer demokratischen Gesellschaft kann eine Zukunft aufgebaut werden, in der alle Völker gleichberechtigt und frei zusammenleben. Die Ezid:innen sollten eine aktive Kraft im Kampf für Demokratisierung und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft sein, die auf freiem und gemeinsamem Leben beruht. Kein Ansatz, der die Freiheit unseres ezidischen Volkes missachtet oder es ignoriert, ist legitim. Unser ezidisches Volk muss sich in allen Bereichen organisieren, um seine Zukunft zu sichern. Der Kampf für ein demokratisches, freies und gleichberechtigtes Leben ist eine gemeinsame Verantwortung aller Völker.
In diesem Sinne grüße ich den Widerstand unseres ezidischen Volkes. Ich möchte betonen, dass ich unter allen Umständen ihre Forderungen nach Freiheit unterstütze. Die Freiheit der Ezid:innen ist untrennbar mit der Freiheit der Völker des Nahen Ostens verbunden. In diesem Zusammenhang ist der Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft auch eine Antwort auf den 73. Ferman an den Ezid:innen. Der von uns eingeleitete Prozess wird insbesondere die Existenz und Freiheit des ezidischen Volkes sichern. Dieser Aufruf ist eine Renaissance – und sie wird vor allem die Renaissance unseres ezidischen Volkes sein. Dieser Prozess wird durch gemeinsame Gefühle und den gemeinsamen Kampf zum Erfolg geführt werden. Ich sende erneut meine tiefsten Grüße.“
Hinweis: Das Wort „Ferman“ bezeichnet einen Erlass in islamischen Ländern und bedeutet so viel wie „Befehl“, „Verordnung“ oder „Auftrag“. Im osmanischen Sprachgebrauch bezeichnete Ferman ein Dekret des Sultans. Bei den Ezid:innen hat der Begriff sich in der Bedeutung „Genozid” festgesetzt und wurde für sämtliche Massaker ab dem Osmanischen Reich üblich. Nach verschiedenen Quellen wurde die ezidische Gemeinschaft im Lauf ihrer Geschichte 73 oder 74 Mal zum Ziel eines Völkermords. Den letzten Genozid an den Ezid:innen verübte die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) ab dem 3. August 2014 in Şengal.