Anklageschrift nach über 1,5 Jahren in Hausarrest

Im Mai 2020 wurden vier Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus der inzwischen zwangsverwalteten Provinz Sêrt abgesetzt und in den Hausarrest überstellt. Erst jetzt, fast 600 Tage und sieben Staatsanwälte später, steht die Anklageschrift.

Über eineinhalb Jahre nach ihrer Absetzung aus dem Amt ist Anklage gegen vier ehemalige Stadtoberhäupter aus der nordkurdischen Provinz Sêrt erhoben worden. Ganze 594 Tage und sieben Staatsanwälte brauchte es, um die im „Copy-Paste-Verfahren“ erstellte Anklageschrift gegen die frühere Ko-Bürgermeisterin von Sêrt, Berivan Helen Işık; ihre damaligen Amtskolleg:innen aus dem Kreis Hawêl (tr. Baykan), Ramazan Sarsılmaz und Özlem Gülmez sowie den Ex-Bürgermeister von Misirc (Kurtalan) Baran Akgül fertigzustellen. Vorgeworfen wird den Politiker:innen die vermeintliche „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“. Sollten sie verurteilt werden, drohen nach dem Antiterrorgesetz § 314 Haftstrafen zwischen siebeneinhalb und fünfzehn Jahren.

Hausarrest: Alternative Form der U-Haft

Die Betroffenen waren am 15. Mai 2020 auf  Betreiben des türkischen Innenministeriums von ihren Ämtern entlassen und festgenommen worden, ihre Gemeinden wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Nach vier Tagen in Polizeihaft hatte ein Gericht gegen alle vier Politikerinnen und Politiker Hausarrest angeordnet und ein Ausreiseverbot verhängt. Diese alternative Form der Inhaftierung hat sich in der Türkei insbesondere bei HDP-Mitgliedern zu einer inflationär angewandten Strafmaßnahme etabliert. Im Fall von Berivan Helen Işık, Özlem Gülmez, Ramazan Sarsılmaz und Baran Akgül ist sie weiterhin in Kraft – und das seit 590 Tagen.

Meral Danş Beştaş (m.) mit Berivan Helen Işık (r. )

In der Anklageschrift gegen Işık und Co tauchen vage formulierte Vorwürfe auf, etwa amtspolitische Äußerungen gegenüber kurdischen Medien oder angeblich „strafrechtlich relevante Beiträge“ in Online-Netzwerken. Darüber hinaus wird den abgesetzten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vorgeworfen, insgesamt rund 200 Personen eingestellt zu haben, die der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verdächtigt würden. Ermittlungen gegen diese vermeintlichen „Terrorhelfer“, von denen mindestens 175 weiterhin für die Stadtverwaltungen in Sêrt arbeiten, laufen aber nicht.

Beştaş: Andauernde Kriminalisierung für Fortsetzung des Nepotismus

Die HDP-Abgeordnete Meral Danış Beştaş aus dem Wahlkreis Sêrt sieht in dem juristischen Vorgehen gegen die Mitglieder ihrer Partei den Versuch, die „Putschmentalität“ in den Rathäusern kurdischer Städte zu verstetigen und die Treuhändermethode als alleiniges Herrschaftsprinzip in der Region zu etablieren. „Unsere abgesetzten Kolleg:innen hatten den Ausverkauf von Sêrt unter den vorherigen Treuhändern der AKP und damit Vetternwirtschaft und Korruption aufgedeckt. Damit die derzeitigen Zwangsverwalter ihre Verbrechen in Ruhe fortsetzen und den Besitz des Volkes an sich reißen können, betreibt die Justiz dieses Landes gezielte Schikane gegen die rechtmäßig gewählten Bürgermeister:innen von Sêrt. Sie werden kriminalisiert, damit die staatlich verwalteten Kommunen von Nepotismus zerfressen werden“, kritisiert Beştaş.

Prozess erst im Mai

Die Anklageschrift gegen Işık, Gülmez, Sarsılmaz und Akgül ist bereits formell angenommen worden und wird an einer der Kammern des Strafgerichts verhandelt. Als Termin für den Prozessauftakt wurde der 12. Mai 2022 festgelegt. Bis dahin sollen die Angeklagten weiterhin in Hausarrest verbringen. Ihr Rechtsbeistand hat Beschwerde angekündigt.