Staatsanwaltschaft verzögert gezielt Verfahren

Seit Monaten wird die Ko-Bürgermeisterin von Sêrt, Berivan Helen Işık, im Hausarrest festgehalten. Diese alternative Form der Inhaftierung wird von türkischen Behörden gezielt durch Verfahrensverzögerung verlängert.

Seit Jahren wird in der Türkei der Hausarrest als eine Form der Untersuchungshaft umgesetzt. Durch eine lange Verschleppung der Verfahren wird diese Methode zu einer dauerhaften Strafmaßnahme. Öffentlich bekannt wurde der Hausarrest Anfang des Jahres als Sanktion gegen die Aktivist:innen von der Boğaziçi-Universität. Auch gegen HDP-Politiker:innen und Journalist:innen wird die Maßnahme verstärkt eingesetzt. Eine diese Politiker:innen ist die Ko-Bürgermeisterin der nordkurdischen Provinzhauptstadt Sêrt (tr. Siirt), Berivan Helen Işık. Selbst ihre Anwält:innen wissen nicht, aus welchem Anlass heraus sie unter gerichtlich angeordneten Hausarrest gestellt wurde. Auch die Einsprüche, die ihr Rechtsbeistand monatlich einlegt, bleiben ergebnislos. Vor zwei Monaten wandten sich die Anwält:innen nun an den Verfassungsgerichtshof.

Sie wissen offenbar nicht einmal selbst, was sie uns vorwerfen“

Rechtsanwalt Şakır Demir erklärt zu dem Verfahren: „Weil Hausarrest nicht als Inhaftierung gilt, beeilt sich die Staatsanwaltschaft nicht bei der Vorbereitung der Anklageschrift.“ Işık selbst sieht in dem Vorgehen einen politischen Angriff und sagt: „Die Behörden wollen uns davon abhalten, gemeinsam mit dem Volk und der HDP-Basis Politik zu machen. Diese Behandlung ist vollkommen rechtswidrig. Normalerweise ist es doch so: Straftat werden festgestellt und juristisch geahndet. Wird man rechtskräftig verurteilt, sitzt man seine Zeit ab. Aber in meinem Fall gibt es so etwas nicht. Ich weiß nicht, was mir seit mehr als einem Jahr vorgeworfen wird. Offensichtlich wissen selbst nicht einmal die Behörden, womit ich beschuldigt werde.“

Alltag sehr begrenzt

Işık beschreibt ihren Alltag im Hausarrest als sehr begrenzt. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf Hausarbeiten, die Geschehnisse zu verfolgen, Bücher zu lesen oder Filme anzusehen, wenn die Möglichkeit dazu besteht. „Man ist eingesperrt in den eigenen vier Wänden. Im  Gegensatz zum Gefängnis ist es möglich, Besuch zu erhalten. Aber an Beerdigungen teilnehmen, und da gab es in den vergangenen Monaten so einige, ist nicht möglich, da die Verstorbenen nicht als nahe Angehörige angesehen wurden.“

Medizinische Versorgung schwierig

Auch die medizinische Versorgung stellt ein Problem dar. „Um in ein Krankenhaus zu gelangen, muss die Behörde in Ankara oder in der Stadt kontaktiert werden. Erst wenn sie eine Erlaubnis geben, können wir zur Behandlung. Wir müssen im Antrag angeben, wann wir das Krankenhaus betreten und verlassen.“

Bevölkerung ist wütend

Işık sagt, dass nicht nur ihre eigenen Wähler:innen über diese Maßnahmen wütend sind. „Das liegt daran, dass die Bevölkerung weiß, dass wir nicht stehlen oder korrupt sind. Wir haben alle Dienstleistungen in einem sehr transparenten kommunalen Ansatz durchgeführt. Die Menschen sahen, dass Dienstleistungen vom ersten Tag an, an dem wir gewählt wurden, bis wir unter Hausarrest gestellt wurden, auf sehr gute Art und Weise erbracht wurden. Auch alle, die uns nicht gewählt haben, wissen, dass die Zwangsverwaltung das Ergebnis einer politischen Entscheidung ist. Die Zwangsverwalter finden keinen Anklang im Volk.“

Unsere Hoffnung ist noch größer“

Die Kommunalpolitikerin fährt fort: „Wir können feststellen, dass die staatlichen Investitionen in den Bau von Gefängnissen fließen, das heißt, es handelt sich um Investitionen in die Unterdrückung der Gesellschaft. Diese Politik zielt darauf ab, die Stimme der Gesellschaft durch Unterdrückung zum Schweigen zu bringen und einzuschüchtern. Sie versuchen, das Gefühl zu schaffen, dass das Haus eines jeden, den sie als Dissidenten betrachten, in ein Gefängnis verwandelt werden kann. Wir werden dafür bestraft, dass wir nicht wie sie denken, nicht ihrem Willen folgen und frei ausdrücken, was wir wollen. Sie sollten aber auch wissen: Je mehr Druck aufgebaut wird, desto lauter wird unsere Stimme. Unsere Hoffnung ist viel größer und wächst immer weiter.“

Seit 14 Monaten Geheimhaltungsverfügung

Der Anwalt Şakır Demir berichtet, die Ermittlungsakte werde seit mehr als 14 Monaten geheim gehalten. Die staatsanwaltliche Verantwortung sei bereits vier Mal gewechselt worden und die Akte mit vielen anderen Verfahren zusammengelegt worden. Daher gebe es sehr viele Beschuldigte in dem Verfahren. Der Anwalt führt aus: „Deshalb können Staatsanwälte nicht mit irgendetwas herauskommen. Wir legen jeden Monat Widerspruch gegen den Hausarrest ein. Zuletzt haben wir das ganze vor den Verfassungsgerichtshof gebracht, aber es gibt keine Antwort von dort. Obwohl in dem Fall bisher keine Anklageschrift vorbereitet wurde, führte die Staatsanwaltschaft des Obersten Gerichtshofs das Verfahren in die Abschlussakte des Verbotsverfahrens gegen die HDP ein. Das ist sehr interessant. Darüber hinaus wurde entschieden, dass die meisten der in der Polizeiakte genannten Vorwürfe nicht weiterverfolgt werden.“

Drei Ko-Bürgermeister:innen befinden sich im Rahmen dieses Verfahrens seit 15 Monaten im Hausarrest, ohne dass es überhaupt eine Anklageschrift gibt. Demir sagt: „Weil Hausarrest nicht als Inhaftierung gilt, beeilt sich die Staatsanwaltschaft nicht bei der Vorbereitung der Anklageschrift. Jetzt sind erstmal Gerichtsferien. Wahrscheinlich wird die Situation im September oder Oktober klarer. Aber da die Staatsanwälte in dem Verfahren so oft gewechselt wurden, kommt das Verfahren nicht voran.“

Hausarrest nimmt zu

Vor dem Hintergrund der Überfüllung in den Gefängnissen hat die Verhängung von Hausarrest, insbesondere um HDP-Politer:innen auszuschalten, zugenommen. Der Anwalt führt weiter aus: „Es gibt keine konkreten Vorwürfe gegen unsere Mandant:innen in Bezug auf Mitgliedschaft in einer Terrororganisation oder etwas anderem, mit dem sie in Hausarrest gehalten werden könnten. Stattdessen werden Interviews mit Stêrk TV, JinNews und anderen Agenturen sowie Beiträge in den sozialen Medien zum Anlass genommen. Und dann ist da noch das Lustige: Der Ko-Bürgermeisterin wird vorgeworfen, ‚fast 89 Personen, die der Terrororganisation nahestehen, eingestellt zu haben‘, Tatsache ist aber, dass 79 dieser 89 Personen weiter für den Zwangsverwalter arbeiten.“