Die Bauarbeiten an den Munzur-Quellen in Dersim werden trotz massiver Proteste der Bevölkerung fortgesetzt. Nachdem bereits meterlange Holzstege angebracht und mehrere Fundamentplatten für Parkplätze und Gebäude betoniert wurden, ist nun an die Steintreppen, die zu den Quellen führen, eine Marmorverkleidung angebracht worden. Die alevitisch-kurdische Bevölkerung ist empört, da das Gouverneursamt zuvor aufgrund heftiger Proteste zugesagt hatte, dass keine Bagger an den Munzur-Quellen eingesetzt werden.
Die illegalen Bauarbeiten an den Quellen des Munzur in einem Naturschutzgebiet in Dersim-Pilûr (türk. Ovacık) werden trotz einer gegenteiligen Entscheidung der Direktion für die Erhaltung des Kulturerbes in Erzîrom (Erzurum) seit August fortgesetzt. Das vom Gouverneursamt in Dersim koordinierte Projekt umfasst eine massive Umgestaltung und Kommerzialisierung des Quellbereichs des Flusses Munzur. Die Quellen sollen abgesperrt und nur noch gegen Eintritt zugänglich sein. In dem Berggebiet schießt an vierzig Stellen der Munzur wie Schaum aus dem Gebirge. Die Wiesen sind übersät mit endemischen Arten wie zum Beispiel einer nur dort wachsenden Wildknoblauchart. Für die kurdisch-alevitische Bevölkerung ist es der Ort, um in Kontakt mit Bavê Munzur zu treten und mit ihm in Gebeten und Gesängen ihr Leid zu klagen. Eine Kommerzialisierung der Quellen stellt einen tiefen Eingriff in die religiöse Praxis der alevitischen Bevölkerung dar und könnte nur mit der Errichtung von Eintrittshäusern vor den heiligsten Orten des Christentums oder des Islam für Gläubige verglichen werden.
Widerstand soll im Keim erstickt werden
Für das Bauvorhaben ist ein Finanzvolumen von 800 Millionen TL veranschlagt. Über den Munzur sollen mehrere Eisenbrücken gebaut werden. Die Bevölkerung, die Stadt- und Gemeindeverwaltung sowie zivilgesellschaftliche Organisationen sind in die Projektplanung nicht eingebunden worden. Die Zivilgesellschaft rennt seit Monaten Sturm.
Landschaftsgestaltung a la AKP | © Pirha
Um den potenziellen Widerstand gegen das Bauvorhaben schon im Keim zu ersticken, hatten die türkischen Behörden parallel zum Baubeginn ein umfassendes Versammlungsverbot rund um das Gebiet der Munzur-Quellen verhängt und Barrieren aufgestellt. Die Absperrungen werden von Militär und Polizei überwacht, der freie Zugang ist somit untersagt. Letzte Woche berichtete die alevitische Nachrichtenagentur Pirha, dass die Generalstaatsanwaltschaft Pilûr gegen 81 Personen ermittelt, die beschuldigt werden, gegen das Demonstrations- und Versammlungsgesetz verstoßen zu haben.
Unter den Betroffenen befinden sich auch der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer Dersim, Kenan Çetin, der Oberbürgermeister Fatih Mehmet Maçoğlu, der Ko-Vorsitzende des HDP-Provinzverbands Ibrahim Kasun, der abgesetzte Bürgermeister der Gemeinde Pêr (auch Çarsenceq, türk. Akpazar) im Landkreis Mêzgir, Orhan Çelebi, und der Vorsitzende der Föderation der Dersim-Vereine Ali Haydar Ben. Bei einer Verurteilung drohen hohe Geldstrafen oder sogar Freiheitsstrafen zwischen eineinhalb und drei Jahren.
Beton mitten im Naturschutzgebiet | © Pirha
Das Alevitentum – eine humanistisch geprägte Lehre
Dersim ist die Region mit dem höchsten Anteil an Personen alevitischen Glaubens. Das Alevitentum verbindet sowohl zoroastrische als auch naturreligiöse und altorientalische Elemente miteinander und ist ein Glaube an eine natürliche Gesellschaft, wonach die Beziehungen zwischen sämtlichen Lebewesen auf gegenseitiger Anerkennung fußen, auf der Grundlage einer kommunalen, solidarischen und teilenden Gesellschaft. Alle Völker sind unabhängig von ihrer Ethnie und ihrer Religion gleichwertig. Im Mittelpunkt des Glaubens steht neben der Menschheit und dem Universum die Natur. Es gibt zahlreiche Bäume, Steine und Flüsse, die als heilige Orte gelten. In fast jedem Dorf gibt es einen Pilgerort. Die Quellregion des Munzur ist nur einer davon.